»Es ist zu spät, Arvid!«
Nachdem sie ihm ihren unabänderlichen Entschluss mitgeteilt hatte, hätte er sie gern geschlagen, doch er wollte sich nicht ein weiteres Mal erniedrigen. Ein weiteres Mal hatte er sein Minderwertigkeitsgefühl in den heimlichen Raum gesperrt, den nur er kannte. Außerdem wusste er, dass sie Recht hatte, dass er zusehends erstarrt war und sich in viel zu hohem Maß mit den Verhältnissen abgefunden hatte. Im Stillen gestand er sich sogar ein, dass ihm ihre Gefühle immer gleichgültig gewesen waren. Oh, dieses schreckliche Wort. Als ob er selbst keine Gefühle hätte! Niemand fühlte und träumte so intensiv wie er, doch ihr war seine Art nicht gut genug. Sie sagte, sie hätte ihm hundert neue Chancen gegeben und jedes Mal habe er Reue und Besserung gelobt – und anschließend wieder alles vergessen. Dennoch solle er sich nicht schuldig fühlen, denn eigentlich habe er nichts richtig falsch gemacht. Sie glaube ihm sogar, dass er sie – auf seine Weise – immer noch liebe. Aber mit Preben könne er es nicht aufnehmen.
Sie hatten das Fischgratin aufgewärmt und getrennt gegessen, und während er in Olas Zimmer saß und fröstelnd ein wenig Zeitung zu lesen versuchte, brachte sie ihm eine Tasse Kaffee. Aus irgendeinem Grund war beinahe alles so wie immer – für eine Weile.
Nach den Fernsehnachrichten hatten sie ein Glas zusammen getrunken und über ihre Unzulänglichkeit nachgegrübelt. Sie packte nicht sogleich ihre Koffer, wie er erwartet hatte, was sie damit erklärte, dass ihr Chef an einem Wochenendseminar teilnähme und sie kaum in seiner Wohnung übernachten könne, wenn er nicht da wäre. Das brachte Arvid ausnahmsweise auf die Palme, der schrie, er denke gar nicht daran, als Ersatzehemann herzuhalten, nur weil es einem skrupellosen Anwalt gerade in den Kram passte. Daraufhin brach Vibeke in Tränen aus und erklärte ein weiteres Mal, dass sie Arvid weder hasse noch verabscheue und dass es eben möglich sei, zwei Menschen gleichzeitig zu lieben.
War es das?
Er hatte vorausgesetzt, dass sie das Bett nicht mehr mit ihm teilen, sondern es vorziehen würde, im Wohnzimmer zu liegen. Doch nachdem es spät geworden war, nach ein paar weiteren Gläschen, huschte sie ins Schlafzimmer und kroch neben ihn unter die Decke. Er unterließ es, sie zu berühren, wollte dies auch gar nicht, wünschte sich nur, sie würde ihn streicheln, sich an ihn schmiegen und um Verzeihung bitten. Ihm sagen, dass sie alles Hässliche – nein, Erschreckende –, das sie ihm gesagt hatte, bereue. So war es früher immer gewesen. Stattdessen merkte er, dass sie nach einer Weile tief zu atmen begann, was ihn verwundert hatte. Wie konnte sie nur schlafen, nach dem, was vorgefallen war?
Merkwürdigerweise war er selbst mit der Zuversicht in Schlaf gefallen, dass sie sich am nächsten Tag wieder versöhnen würden. Er wollte sich besondere Mühe geben und ihr das Frühstück machen; das mochte sie.
Dennoch zitterte er unter der Dusche. Nicht weil das Wasser zu kalt gewesen wäre, sondern weil er wusste, dass sich der Abstand zwischen ihnen in einen Abgrund verwandelt hatte; vielleicht gerade weil sie die Frechheit besessen hatte, sich neben ihn ins Bett zu legen. Herrgott, wie konnte sie sich nur so verhärten? Während er sich abtrocknete, vergoss er ein paar Tränen. Begriff, dass es jetzt ums Ganze ging. Er fasste den Entschluss, das Frühstück zu ignorieren, am Flussufer spazieren zu gehen, erst zurückzukommen, nachdem sie aufgewacht war, und ihr unmissverständlich klar zu machen, dass er kein Waschlappen war, der sich alles gefallen ließ. Das war es wohl, was ihm fehlte: die Fähigkeit, sich unmissverständlich auszudrücken. Jeder andere Ehemann hätte seine Frau ordentlich durchgeprügelt, um danach eine Bar aufzusuchen und seinen Frust mit mindestens fünf Gläsern Whisky hinunterzuspülen. Er hingegen, Arvid K. Bang, hatte sich alles stillschweigend angehört, als ob es völlig in Ordnung wäre, dass sich seine Frau einen Liebhaber besorgt hatte und ihn verlassen wollte. Hatte ihn die Mitteilung nur gelähmt, oder teilte er in Wahrheit ihre Auffassung, dass es sich nicht lohne, um eine in Routine erstarrte Beziehung zu kämpfen? Oder war er schon so abgestumpft, dass er sich an die vielen schönen gemeinsamen Stunden nicht mehr erinnern konnte? War er ihrer Beziehung genauso überdrüssig wie sie? Nein und nochmals nein. Er freute sich noch jeden Abend, wenn sie nach der Arbeit nach Hause kam, auch wenn er schon lange damit aufgehört hatte, sie aus diesem Grund zu umarmen und zu küssen. Vibeke strahlte so viel Wohlbehagen und Sicherheit aus. Ihr konnte er alles erzählen, was sich in seinem Kellerarchiv ereignete. Sie hatte immer ein offenes Ohr für ihn.
Noch gestern Morgen war er mit seinem Dasein zufrieden gewesen. Warum konnte sie es nicht auch sein? Jeder war doch schließlich für sein eigenes Wohlbefinden verantwortlich und konnte dies nicht von anderen einfordern. Er selbst war so fröhlich wie immer zu Arbeit gegangen, hatte sich auf das bevorstehende Wochenende und auf die Möglichkeiten gefreut, die der morgige Tag ihm bieten würde: zunächst das späte Frühstück, der Einkaufsbummel in der Stadt, Gespräche mit bekannten und unbekannten Menschen, der Besuch des Cafés, das Ausleihen eines Videothrillers für den Abend, der Heimweg, der sie bei Sonnenschein über die Brücke führte, die Fußballspiele im Fernsehen, der obligatorische Milchreis am Samstag, später Kaffee und Kuchen, den sie in der Stadt gekauft hatten. War dies etwa keine angenehme Art, seine Zeit zu vertreiben?
Doch, natürlich, aber Vibeke war das nicht genug.
Manchmal opferte auch er seine Zeit, ließ den Schützenverein sausen und begleitete sie auf sterbenslangweilige Ausstellungen ins Kunstindustriemuseum. Und mehrmals hatte er versucht, die wichtigen Bücher zu lesen, die sie ihm vorgeschlagen hatte, obwohl ihm Actionthriller lieber waren. War es nicht immer so gewesen – ohne dass sie gedroht hatte, ihn deswegen zu verlassen? Während ihrer Verlobungszeit hatte er aus seinen Interessen nie einen Hehl gemacht; damals waren sie sogar ins Lerkendalstadion gegangen und hatten Rosenborg Trondheim angefeuert. Nein, der eigentliche Grund für ihren Ausbruchsversuch war natürlich, dass der widerwärtige Preben Mack, der ihn um einen halben Kopf überragte, beschlossen hatte, seinem Charme freien Lauf zu lassen. Er konnte nicht akzeptieren – wenn er auch zur Not ein wenig Verständnis aufbrachte –, dass Menschen hin und wieder Versuchungen erlagen. Dass er nicht heftiger reagiert hatte, lag daran, dass der Schock nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen war. Denn tief in seinem Inneren existierte ein weiterer verborgener Raum, ein geheimer Platz, der in ihm die Sehnsucht auslöste, ganz allein zu sein; auch der Neid auf Ola spielte eine Rolle, der sich abgenabelt hatte und – abgesehen von seinem Studium – völlig frei über seine Zeit verfügte. In dem Brief, den sie gestern von ihm bekommen hatten, betonte er, wie wohl er sich in Bergen fühle und dass es ihm nichts ausmache, dass sein Studiendarlehen den Lebensstandard ziemlich einschränkte. Vibeke und er hatten ihre Etagenwohnung beinahe abbezahlt. Sollte es so weit kommen, dass sie die Hälfte des Wertes einforderte, würde er sich immer noch eine Unterkunft leisten können, die seine bescheidenen Ansprüche befriedigte – eine kleine Wohnung, in der zumindest niemand auf ihm herumhackte und er kein schlechtes Gewissen haben musste wegen all der kleinen Versäumnisse, die sie ihm permanent vorwarf.
Aber würde er diese verlockende Einsamkeit auf lange Sicht aushalten?
Der Morgenspaziergang an der frischen Luft tat ihm gut. Nachdem er eine Weile am Fluss entlanggegangen war, blieb er vor der Nidarøhalle stehen, befand sich auf dem nassen, bleichen Rasen, auf dem gerade die letzten Schneereste geschmolzen waren, und betrachtete die Enten, die schnatternd am Ufer standen. Hier, wenige hundert Meter von ihrem Wohnblock entfernt, bekam man buchstäblich Abstand zu den Dingen. Der Gedanke an ein Zerbrechen seiner Ehe kam ihm ganz und gar unsinnig vor. So etwas geschah heutzutage zwar vielen, aber doch nicht Vibeke und ihm. Und genauso verhielt es sich mit seinem Sparkonto. Beide Dinge waren fast gleichzeitig eingetreten und beide erschienen unwirklich.
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