»Glaubst du, der Absender ist wütend?«, fragte er Ivar.
»Warum sollte er das sein?«
»Weil wir den Brief nicht veröffentlicht haben.«
Ivar zuckte die Schultern. »Das wird sich zeigen. Vielleicht erhalte ich ja bald eine Mahnung von ihm.«
Oder eine weitere Frau wird ermordet, dachte William. »Kommst du mit ins Krankenhaus?«
»Nein danke. Das bringt mich nur durcheinander, weil ich den Unterschied zwischen den autorisierten Seelenklempnern und den Patienten nicht erkenne. Außerdem glaube ich nicht, dass Herr X dort zu Hause ist.«
Das tat William auch nicht. Dennoch fand er es interessant, einen Einblick in das Leben hinter den Mauern zu bekommen. Auch die Leser hatten ein Recht darauf, solange sich Gerüchte hielten, der Mann sei direkt aufs Krankenhaus zugelaufen. Obwohl die Existenz eines gewissen Briefs vertuscht wurde, konnte die Polizei einen Journalisten nicht daran hindern, einen Fachmann zur psychischen Struktur eines Serienmörders zu befragen.
»Wenn du in zwei Stunden nicht zurück bist, gebe ich eine Vermisstenanzeige auf«, sagte Ivar grinsend, als William das Büro verließ.
Das Außenthermometer zeigte fünf Grad plus, es herrschte Tauwetter. Typisch, dachte William lakonisch, als er sich ins Auto setzte. Es war der 9. Februar. Wenn er an das merkwürdige Winterwetter der letzten Jahre dachte, fragte er sich oft bekümmert, ob die Klimaforscher nicht Recht hatten, doch in diesem Moment dachte er ausschließlich daran, dass sich an irgendeinem Ort, vielleicht ganz in der Nähe, ein Mörder befand, dem die Polizei nicht auf die Spur kam. Gestern Nachmittag war er in einer Buchhandlung gewesen und hatte sich – beinahe verstohlen – ein Exemplar der New Encyclopedia of Serial Killers gekauft, doch bis jetzt hatte er nur ein wenig darin blättern können. Sollte der berechnende Verrückte einen weiteren Mord begehen, würde vielleicht ein gewisses Muster deutlich, nach dem der Täter vorging – ein abnormes Muster, versteht sich.
Ihn schauderte, als er auf die E6 abbog. Im nächsten Augenblick fragte er sich, warum er sich aufgrund des anonymen Briefs fortwährend düstere Theorien ausmalte. Weil er wollte, dass es so war? Weil er bereits ahnte, dass weitere Morde geschehen würden? Weil er begonnen hatte, von Blut zu träumen?
Vor zehn Tagen hatte er sich an seine Kollegin Halldis Nergård gewandt und ihr von seinem Besuch bei der Familie Danielsen in Risvollan berichtet. Er hatte ihr ebenfalls erzählt, dass Solveig die Berichterstattung über alltägliche Gewalt für absolut unzureichend hielt. Sie hatte aufmerksam zugehört, worauf er in der letzten Ausgabe ihrer Wochenzeitung zwei kenntnisreiche und gut geschriebene Artikel von ihr zu diesem Thema entdeckte. Vielleicht waren sie nur eine Reaktion auf den fortdauernden Giftmordprozess, dessen Tat sich ebenso gut auf Hass wie auf Eifersucht zurückführen ließ, doch William war dies einerlei. Hauptsache, den Menschen wurde in puncto familiärer Gewalt die Augen geöffnet, damit sie begriffen, dass dieses Thema jeden betreffen konnte und jeden etwas anging. Er hatte Halldis zu ihren Artikeln gratuliert. Sie selbst glaubte, ein wenig zur Aufklärung beigetragen zu haben, zweifelte aber an einer vorbeugenden Wirkung. Die Frage war, ob sich die psychische Struktur des Menschen überhaupt beeinflussen und verändern ließ, ob die individuelle seelische Veranlagung nicht vielmehr genetisch festlag und es sinnlos war, die eigenen Triebe und Bedürfnisse zu verleugnen. Ebenso sinnlos vermutlich wie der Versuch, einem Drogenabhängigen im Zuge der Therapie den Aggressionstrieb zu nehmen. Zwangsmaßnahmen waren der letzte Ausweg und kamen in der Regel erst zur Anwendung, wenn die Katastrophe bereits geschehen war. Anders ausgedrückt: War es moralisch vertretbar, auf den vagen Verdacht hin, der Nachbar misshandele seine Kinder, die Behörden zu informieren?
Es ärgerte William, dass er sich immer wieder mit einer Frage beschäftigte, die er nicht lösen konnte, und so versuchte er sich bewusst auf etwas anderes zu konzentrieren. Er war nicht gerade ein Musikliebhaber, summte jedoch eine Melodie, die sich wie Night and Day anhören sollte, als er der ausgeschilderten Umleitung um die Stadtmitte folgte und sich Lade näherte. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass er zu früh aufgebrochen und vermutlich auch viel zu schnell gefahren war. Erst in zwanzig Minuten war er mit dem Chefarzt verabredet.
Deshalb machte er noch Station beim Einkaufszentrum in Lade, das sich am Ende der Sportanlage befand, und bog auf den Parkplatz ein. Stellte den Motor ab und überlegte, ob er eine Schachtel Zigaretten kaufen sollte. Er beobachtete den Eingangsbereich. Ivar war bereits in der Bank gewesen, die sich im selben Gebäude wie das Einkaufszentrum befand, und hatte sich mit der weiblichen Angestellten unterhalten, also hatte es keinen Sinn, wenn er dasselbe tat. Ivar beherrschte sein Metier und wusste als erfahrener Kriminalreporter genau, nach welchen Details er sich erkundigen musste. Neben dem Haupteingang gab es ein kleines Vordach, unter dem die Einkaufswagen standen. Der Täter hätte sich genauso gut hier aufhalten und die Leute im Auge behalten können, die das Gebäude verließen. Er stieg aus dem Auto und schlenderte auf die Einkaufswagen zu. Ein ausgezeichneter Beobachtungsort, vor allem im Dunkeln.
Ehe er sich’s versah, war William hineingegangen und hatte sich eine Schachtel Barclays gekauft. Danach benutzte er den Anzünder im Auto und fuhr weiter. Folgte langsam dem Østmarkveien und stellte sich vor, wie der Täter sein Opfer verfolgt hatte. Was ging im Kopf eines solchen Kerls vor, wenn überhaupt etwas in ihm vorging? Rechts zweigte der Victoria Bachkes vei ab, doch er fuhr weiter geradeaus, war zuvor schon da gewesen und wollte sich in seiner Rolle als Privatdetektiv auch nicht lächerlich machen. Kreuzte langsam die Olav Engelbrektssons allé und bog in die Parkanlage ein, die im Sommer sehr hübsch, zu dieser Jahreszeit jedoch deprimierend war. Stellte das Auto auf dem großen Parkplatz zwischen den hohen Bäumen und den frei stehenden Gebäuden ab. Spazierte zum lachsfarbenen Backsteinhaus hinüber, in dem sich die Station B3 befand. Eigentlich war er mehr an der »gefährlichen« Abteilung interessiert, die weiter in den Park hineinreichte und auf der Rückseite einen umzäunten Hof, jedoch keinerlei Arztbüros aufwies. Er hatte gerade seine Zigarette gelöscht, als eine weiß gekleidete Frau in der Tür erschien.
Er wunderte sich, wie sauber und ordentlich das Gebäude von innen wirkte. Warme Farben und Topfpflanzen, niedrige Tische und bequeme Stühle. William stellte sich vor und sagte, er sei mit Jomar Bengtsen verabredet. Er glaubte, er würde sicher eine Weile warten müssen, doch sie lächelte ihn sofort mit einem Folgen-Sie-mir-Blick an und führte ihn an einer Sitzgruppe vorbei, wo einige Männer saßen und Kaffee tranken. Er ging davon aus, dass es sich um Patienten handelte, doch weder Aussehen noch Kleidung ließen auf ihren Geisteszustand schließen; auch sah er keine dumpfen Blicke, die verrieten, dass sie sich in einer anderen Welt befanden.
Dr. Bengtsen hingegen, ein stattlicher Mann in den Fünfzigern mit ungebändigten, abstehenden Haaren, machte auf den voreingenommenen William einen dubiosen Eindruck. Mit den tief liegenden Augen und seiner bunten Jacke hätte er durchaus zu den Patienten gehören können. Vielleicht verhielt es sich wirklich so, wie viele – Ivar inklusive – behaupteten: dass Leute sich gern zu Psychologen oder Psychiatern ausbilden ließen, um den eigenen psychischen Problemen auf den Grund zu kommen.
Die Stimme passte allerdings zu einem professionellen Mediziner. Der Händedruck war warm und fest, und sobald er seinen Gast in einem bequemen Stuhl seines gelb gestrichenen Büros im Dachgeschoss hatte Platz nehmen lassen, setzte er sich ihm gegenüber und verkündete, er habe nur dreißig Minuten Zeit.
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