William nickte erneut. Er konnte sich dezent im Hintergrund halten und in die Lage der Hinterbliebenen hineinversetzen. Er wusste, dass die Neugier seine eigentliche Triebfeder war, sowie die klammheimliche Hoffnung, der Mörder könne sich unter den Trauergästen befinden, wie dies manchmal in Romanen und Filmen vorkam.
»Was mich wundert«, bemerkte Henriksen nach einer Weile, »ist, dass die Polizei eine so rasche Beerdigung zulässt. Ich meine, Vibeke Ordal wurde doch erst vor elf Tagen ermordet. Ich dachte, die Experten würden für die Untersuchung der Leiche mehrere Wochen benötigen.«
»Sie wurde einen Tag nach ihrer Ermordung obduziert. Nach meinen Kenntnissen gab es keinen Grund, die Beerdigung aufzuschieben. Schließlich wurde sie nicht vergiftet, wie in dem Fall, der gerade verhandelt wird.«
»Ich kann nur hoffen, dass sie den Kerl möglichst bald schnappen. Meine Frau sagt, sie findet keine Ruhe, bevor sie nicht eine große Mauer ums Krankenhaus gebaut haben.«
Das Begräbnis begann um halb zwei. Die Trauerfeier fand in der Lademoen Kapelle in Voldsminde statt. William folgte Henriksen in seinem eigenen Wagen und blieb, nachdem er Henriksens Frau begrüßt hatte und diese mit ihrem Mann hineingegangen war, noch eine Weile hinter dem Steuer sitzen, um die Leute zu beobachten, die der Reihe nach auf den Parkplatz einbogen und aus ihren Autos stiegen. Die Temperatur lag um den Gefrierpunkt, und obwohl die feuchten, weißen Schneeflocken, die vom Himmel fielen, für eine verspätete Weihnachtsstimmung sorgten, konnten sie auch als Versuch eines gnädigen Gottes betrachtet werden, die Schwere des Abschieds ein wenig zu mildern. Bei zwei Autos handelte es sich um neue Toyotas mit dem Logo der Firma, für die Vibeke Ordal gearbeitet hatte. Er erkannte einen der Mitarbeiter, der ihm vor ein paar Jahren einen gebrauchten Corolla verkauft hatte.
Unter den Gästen bemerkte er auch einige Gesichter aus dem Sportmilieu, allen voran einen groß gewachsenen Mann seines Alters mit kupferroten Haaren und einem traurigen, dunklen Anzug. Hatte Kolbjørnsen Gleiches im Sinn wie er selbst, oder war es üblich, dass die Polizei den Ermordeten die letzte Ehre erwies?
Um fünf vor halb zwei, als der Strom der Besucher nachließ, verließ William widerwillig seinen Wagen und betrat die hell erleuchtete Kapelle. Ein Mann in dunklem Anzug, der sich am Eingang postiert hatte, reichte ihm ein zusammengefaltetes Blatt mit den Liedtexten, und die Töne der einsetzenden Orgel bedrückten ihn so stark, wie er befürchtet hatte. Der Anblick des Sargs sowie der süßliche Duft der Blumen verstärkten sein Gefühl, an einer Trauer teilzuhaben, zu der er eigentlich keinen Anlass hatte. Hier war er ein ebenso unbeteiligter Zuschauer wie in der ärmlichen Wohnung in Risvollan. Joakim, sein Vater, hatte es ihm damals gesagt, nachdem er ihm erzählt hatte, er würde beim Trondheimer Anzeiger anfangen: »Du wirst vieles zu sehen bekommen, mein Junge, darunter auch Dinge, auf die du lieber verzichten würdest. Aber das gehört wohl zum Alltag eines Journalisten.« Der Vater hatte Recht behalten, doch im Gegensatz zu ihm war Solveig der Meinung, er müsse sich auch persönlich für die wichtigen Fälle interessieren, über die er schrieb. Aber das war ihm nicht möglich, denn je mehr er vom Privatleben anderer Menschen erfuhr, desto stärker musste er darauf achten, einen gewissen Abstand zu wahren. Ließ er das Leid fremder Personen zu nahe an sich herankommen, dann war der Griff zur Flasche oder anderen Drogen vorprogrammiert. Geistliche zum Beispiel, die oftmals mehrere Begräbnisse am Tag durchzuführen hatten, konnten unmöglich so tief mit den Trauernden mitfühlen, wie ihre salbungsvollen Stimmen vorgaben. Kein Wunder, dass man vielen von ihnen die Routine anmerkte. Als Berufsanfänger, der von zahlreichen Beerdigungen berichten musste, hatte er versucht, sich in die Situation eines Pfarrers hineinzuversetzen, und es dauerte nicht lange, bis er seine eigenen Formulierungen auswendig kannte:
Die Kirche war feierlich mit Blumen und Kerzen geschmückt. Auf dem Sarg lag ein Bouquet der engsten Familienangehörigen, das aus dunkelroten Rosen bestand ...
Er nahm in der hintersten Reihe Platz, ein Stück von Kolbjørnsen entfernt, dessen hellwacher Blick die Anwesenheit des Trondheimer Anzeigers mit unmerklichem Lächeln quittierte. Falls sich der Täter wider alle Wahrscheinlichkeit unter der Schar barhäuptiger Köpfe befand, war es William unmöglich, ihn zu identifizieren. Schämen sollte er sich, denn er hatte hier nichts zu suchen.
Ein Trio spielte »So nimm denn meine Hände«, und nach der Beerdigung wurde »Schön ist die Erde« angestimmt.
Er bemerkte, dass er die Deckenbalken zählte, während der Pfarrer sprach. Erschrocken zuckte er zusammen, wie ein kleiner Junge, den man auf frischer Tat ertappt hatte. Dann versuchte er, sich das Gesicht der Toten im Sarg vorzustellen, den tiefen Schnitt in ihrem weißen Hals, von dem man das Blut sorgfältig entfernt hatte, doch es gelang ihm nicht. Vielleicht weil er sie niemals lebend gesehen hatte, vielleicht weil er sich im Dienst befand und die äußeren Umstände ohnehin nicht beeinflussen konnte.
Danach erhoben sich alle und blieben eine Weile unbeweglich stehen, bevor ein junger Mann, Gorm Ordal, gebeugten Kopfes und seine Freundin im Arm haltend, langsam durch den Mittelgang schritt. Ein Stück dahinter folgte ihm ein Mann mittleren Alters mit grau melierten Haaren und geröteten Augen. Die Ähnlichkeit mit Gorm war so auffällig, dass William sofort begriff, dass es sich um den Vater handelte. Harald Tranøy war aus Oslo gekommen, um am Begräbnis seiner ehemaligen Frau teilzunehmen. Anständige Menschen taten so etwas offenbar.
Er empfand Erleichterung, als er wieder den Schneematsch unter seinen Füßen spürte. Während er die Tür seines Autos öffnete, legte sich eine Hand auf seine Schulter.
»Hallo.« Es war der Toyota-Verkäufer namens Knut Petter. Man sah ihm an, dass er geweint hatte.
»Eine furchtbare Geschichte«, sagte William.
»Völlig unbegreiflich.«
»War sie beliebt bei ihren Kollegen?«
»Sehr beliebt. Fast die gesamte Belegschaft ist hier.«
Der Mann hatte sich eine Zigarette angezündet, und William bekam Lust, es ihm gleichzutun. Stattdessen ergriff er die Gelegenheit zu einer weiteren Frage: »Niemand von Ihnen wusste, dass sie an diesem Tag im Lotto gewonnen hatte?«
»Nein, ich denke nicht. Vibeke wollte es anscheinend lieber für sich behalten. Aber die Polizei hat uns natürlich auch schon gelöchert.« Er machte eine mürrische Kopfbewegung in Richtung Kolbjørnsen, der sich wenige Meter entfernt mit Harald Tranøy unterhielt. »Als hätte irgendjemand von uns Vibeke auch nur ein Haar krümmen können. Kommen Sie noch mit zum gemeinsamen Essen?«
»Nein, ich kannte sie nicht persönlich.«
»Verstehe. Sie sind hier, um über das Begräbnis zu berichten.«
»Nein, nein.«
»Vielleicht war der Mörder sogar unter uns. So was soll ja vorkommen. Wenn er auch nicht an den Tatort zurückkehrt, sucht er vielleicht immer noch die Nähe zu seinem Opfer.«
William schüttelte den Kopf, begriff jedoch, dass er nicht der Einzige war, der eine lebhafte Fantasie besaß. Hingegen würde er nie so handeln wie seine Kollegen von der Boulevardpresse – von denen er allerdings niemand in der Kapelle erblickt hatte –, sich an die engsten Angehörigen wenden, sie fotografieren und nach ihren Gefühlen befragen. Den schamlosen Reportagen, die daraus entstanden, fehlte jede Spur echter Mitmenschlichkeit; sie befriedigten einzig und allein den unbändigen Drang der Leserschaft, Einblick in das Privatleben anderer Leute zu bekommen. Sowohl Dagbladet als auch VG hatten bereits Kurzinterviews mit Gorm Ordal veröffentlicht, die weder besonders sensibel noch erhellend waren. Auch in Norwegen war man auf dem Weg, individuelle Tragödien öffentlich auszuschlachten, was er nicht ausstehen konnte. Dort, wenn auch nicht auf allen Gebieten, verlief für ihn die Grenze, die moralisch verantwortlichen Journalismus von unverantwortlichem trennte. Unter anderem, weil es seine Pflicht war, Menschen, die zur Redseligkeit neigten, vor sich selbst zu schützen.
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