Als die Beiträge bearbeitet waren, rief er Knutas an und teilte mit, dass sie das Interview mit Svea Johansson senden und über den Hund berichten würden. Johan wusste, wie wichtig es war, es sich mit der Polizei nicht zu verderben. Das würde es nur erschweren, neue Auskünfte zu erhalten. Knutas wurde nicht wütend, er wirkte eher resigniert. Zum Ausgleich versprach Johan, in seinem Bericht zu erwähnen, dass Hinweise aus der Bevölkerung von der Polizei dankbar entgegengenommen würden.
Nachdem er aufgelegt hatte, wanderten er und Peter durch den hellen Frühsommerabend in Richtung Hotel. Peter schlug vor, einen Spaziergang zu machen und in einem Straßencafé zu essen, statt gleich ins Hotel zu gehen.
Johan kannte sich auf Gotland gut aus. Er hatte viele Sommer auf der Insel verbracht. Vor allem mit Radtouren, in den Achtzigerjahren, als das voll im Trend lag und alle Welt im Sommer auf Gotland herumradeln wollte. Familien, Schulklassen, Jugendliche, frisch verliebte Paare. Ob das wohl heute auch noch so war? Die Insel war doch nach wie vor zum Radfahren geeignet, mit ihrer flachen Landschaft, den Wiesen am Wegesrand und den langen Sandstränden.
Sie gingen durch die Strandgatan, durchquerten ein Tor in der Mauer und erreichten Almedalen, einen großen, offenen Platz mit Parkbänken, Springbrunnen und einer Bühne, auf der während der traditionellen Politikerwoche im Juli die Politiker ihre Reden hielten. Im Sommer wimmelte es hier nur so von sonnenbadenden Feriengästen und Familien mit kleinen Kindern.
Jetzt war alles menschenleer. Johan und Peter gingen weiter und sahen sich im Hafen um, wo ein frischer Wind vom Meer her wehte. Noch lagen fast keine Boote da. Die meisten Straßencafés und Restaurants waren geschlossen. In zwei oder drei Wochen würden sie jeden Abend bis auf den letzten Platz besetzt sein.
Die Stadt machte einen vollkommen anderen Eindruck, wenn keine Touristenhorden darin umherzogen. Sie stiegen die Treppe bei der Kirche hoch und erreichten die pittoresken Häuser oben auf Klinten. Visby breitete sich unter ihnen aus, mit einem Wirrwarr aus Häusern, alten Ruinen und schmalen Gassen, die sich innerhalb der Stadtmauer zusammendrängten. Und im Hintergrund lag das Meer.
Die Dämmerung senkte sich über die Stadt, während sie den Rackarbacken hinuntergingen und am Dom vorbeikamen. Die melodischen Klänge von Die reiche Tracht des grünen Laubes schallten aus dem Portal.
Donnerstag, 7. Juni
Das Haus lag in einem älteren Wohngebiet in Roma, mitten auf Gotland, in unmittelbarer Nähe der Schule und des Sportplatzes. Es war umgeben von Villen mit überwucherten Gärten. Die Gegend war idyllisch und strahlte Ruhe aus. Nach einigen Mühen hatte Johan herausbekommen, wer die Frau war, mit der er im Polizeigebäude beinahe zusammengestoßen war. Sie hieß Emma Winarve und war eine enge Freundin von Helena Hillerström. Er hatte sie angerufen. Sie war zuerst äußerst skeptisch gewesen, als er um ein Gespräch gebeten hatte. Nachdem Johan nicht lockergelassen hatte, war sie schließlich widerstrebend bereit, sich mit ihm und Peter zu treffen.
Sie hielten vor der wild wachsenden Fliederhecke, deren lila und weiße Blüten sich gerade öffneten. Der Garten war beeindruckend, mit seinen weitläufigen Rasenflächen und den Beeten mit den vielen Blumen, deren Namen Johan nicht kannte. Im Norden ballten sich schwarze Wolken zusammen. Sicher würde es noch vor dem Mittagessen regnen.
Emma Winarve öffnete ihnen die Tür. Sie trug ein weißes T-Shirt und eine weiche graue Hose. Sie war barfuß. Ihr Haar hing ihr feucht über die Schultern. Wie schön sie ist, dachte Johan, dann riss er sich zusammen. Das dauerte einige Sekunden zu lange, so lange, dass Emma irritiert schien.
»Hallo, Johan Berg von den Regionalnachrichten, Schwedisches Fernsehen. Das ist Peter Bylund, der Kameramann. Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie sich Zeit für uns nehmen.«
»Hallo, Emma Winarve«, sagte sie und reichte ihnen die Hand. »Kommen Sie herein.«
Sie führte sie ins Wohnzimmer. Es hatte einen dunklen Holzboden, weiß verputzte Wände und große Fenster zum Garten hin. Der Raum war nur spärlich möbliert. An der einen Wand standen sich zwei grau-blaue Sofas gegenüber. Sie nahmen Platz. Emma setzte sich auf das andere Sofa und sah sie an. Bleich und rot um die Nase.
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen viel sagen kann.«
»Wir wüssten gern etwas über Ihre Beziehung zu Helena«, sagte Johan. »Wie gut haben Sie sie gekannt?«
»Sie war meine beste Freundin, auch wenn wir in den letzten Jahren nicht mehr so viel zusammen waren«, sagte sie in weichem Gotländisch. »Wir kannten uns seit dem Kindergarten und sind zusammen zur Schule gegangen. In der Oberstufe kamen wir in unterschiedliche Klassen, aber wir waren trotzdem fast so oft zusammen wie vorher. Damals wohnten wir in derselben Reihenhaussiedlung in Visby, in der Rutegatan in der Nähe von Ericsson. Aber die heißen jetzt ja Flexitronics.«
»Hatten Sie auch später noch viel Kontakt?«
»Helenas Familie ist nach Stockholm gezogen, ein Jahr nach unserem Abitur. Aber wir hatten weiterhin Kontakt, haben mehrmals pro Woche miteinander telefoniert, und ich habe sie auch in Stockholm besucht. Im Sommer war sie dann immer hier. Das Haus bei Gustavs hatten sie ja behalten.«
»Was für ein Mensch war Helena?«
»Sie war fast immer gut gelaunt. Aufgekratzt, könnte man sagen. Ungeheuer extrovertiert, sie kam leicht mit Leuten in Kontakt. Sie dachte positiv. Sie sah immer die guten Seiten.«
Emma sprang auf, lief aus dem Zimmer und kam kurz darauf zurück, mit einem Glas Wasser und einer Rolle Küchenpapier.
»Und Helenas Freund, wie ist der?«, fragte Johan.
»Per? Der ist toll. Reizend, umsichtig und überaus um Helena besorgt. Ich bin ganz sicher, dass er unschuldig ist.«
»Wie lange waren die beiden zusammen?«
Emma trank einen Schluck Wasser. Sie ist wunderbar, dachte Johan.
»Das müssen so ungefähr sechs Jahre gewesen sein, denn sie haben sich in dem Sommer kennen gelernt, in dem ich geheiratet habe.«
»Sie haben sich also gut verstanden?«, fragte Johan, der gleichzeitig eine leise Enttäuschung verspürte. Natürlich war sie verheiratet. Großes Haus, Sandkasten und kleine Fahrräder im Garten. Trottel, dachte er. Hör auf, sie dir als deine nächste Eroberung vorzustellen.
»Ja, davon bin ich überzeugt. Natürlich hatte sie ihn ab und zu satt und hat sich gefragt, ob er sie wirklich liebte. Aber so geht es sicher den meisten, die lange zusammen sind. Ich glaube, dass sie sich für ihn entschieden hatte. Ich weiß, dass sie einige Male gesagt hat, wenn sie jemals Kinder bekommt, dann von Per. Bei ihm hat sie sich geborgen gefühlt.«
»Können wir vor laufender Kamera einige Fragen stellen? Wir nehmen nur die, die Ihnen nichts ausmachen.«
»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Wir könnten doch einen Versuch machen? Wenn es Ihnen unangenehm wird, hören wir sofort auf.«
»Na gut.«
Peter holte die Kamera. Er verzichtete auf Stativ oder zusätzliche Scheinwerfer. Die Sache war auch so schon schwierig genug. Johan setzte sich zu Emma auf das Sofa. Er nahm den Duft ihrer frisch gewaschenen Haare wahr.
Das Interview wurde wirklich gut. Emma erzählte von Helena und ihrer Freundschaft. Über ihre eigene Angst und darüber, wie der Mord ihre ganze Existenz erschüttert hatte.
»Hier haben Sie meine Karte, falls Sie noch mehr sagen oder einfach nur anrufen möchten«, sagte Johan, ehe sie gingen.
»Danke.«
Sie legte die Karte auf den Schreibtisch, ohne sie auch nur anzusehen.
Als sie auf dem mit Kies bestreuten Platz vor dem Haus standen, schnappte Johan nach Luft.
»Tolle Frau«, keuchte er und drehte sich zu Peter um, der mit der Kamera auf der Schulter hinter ihm herkam.
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