Der eine der deutschen Kriegsknechte hatte eine Narbe auf der Oberlippe; sie wurde durch den Bart nur halb verdeckt und verursachte, dass er lispelte. Michel Thögersen hörte den losen Reden zu und amüsierte sich wehmütig — ihm wurde heiss bei all dem, was er zu hören bekam. Und während Wein und Wohlbehagen seinen Sinn lösten, verhärtete er sich inwendig, fühlte eine rauhe Kälte in sich aufsteigen, hielt sie aber nieder und sammelte sich.
Die drei Deutschen trieben sich beim Schenktisch herum. Michel Thögersen und Otte Iversen blieben allein am Tisch sitzen. Keiner von ihnen sagte etwas, Michel versuchte in sich zu gehen. Er blickte in die Dunkelheit zwischen Tisch und Bank hinunter und empfand eine bittere Einsamkeit. Aber er wollte sich zufrieden geben, seufzte, zog seine Storchbeine an sich, wischte sich den Schweiss von der Stirn und fasste sich. Otte Iversen drehte seinen Becher zwischen den Händen; er sah noch immer aus, als ob er krank sei.
Als die Deutschen mit neuentdeckten Getränken zurückkamen, hatte Michel Thögersen sich gesammelt, trank verständig und ohne Unruhe. Jetzt kneipten sie alle darauflos und dachten an nichts weiter. Otte Iversen leerte seinen Becher, sooft er gefüllt wurde, und veränderte sich nicht im geringsten dabei. Clas, der Mann mit der Narbe in der Lippe, stimmte ein Lied an, das recht seltsam klang.
Michel Thögersen nahm eines der gewaltigen Zweihandschwerter und wog es prüfend in der Hand — sie zeigten ihm die Griffe. Jedesmal, wenn die scharfe Spitze sich auf ihn richtete, zog es hässlich wie ein eiskalter Wind durch sein Rückgrat — das wunderte ihn, er fürchtete sich doch sonst nicht vorm Messer.
Und Clas sang:
Ei werd’ ich dann erschossen,
Erschossen auf weiter Heid’
Man trägt mich auf langen Spiessen,
Ein Grab ist mir bereit;
So schlägt man mir den Pumerlein Pum,
Das ist mir neunmal lieber
Denn aller Pfaffen Gebrumm.
Die Hälfte der Worte rann ihm in den Bart. Man wartete mit Kriegsgeschichten auf, von Gefechten hier und dort — hui, hui — von Sieg und Todesgefahren und…
„Heinrich, erinnerst du dich noch der blonden Leonore?“ schrie Glas ausgelassen. Ja, Heinrich erinnerte sich ihrer noch. Die Geschichte sprudelte ihm aus dem Munde, Clas und Samuel wälzten sich vor Lachen.
Michel Thögersen aber schwieg und wand sich unter diesem Schwall von Offenherzigkeit, er schielte zu Otto Iversen hinüber — und er allein bemerkte ein Lächeln auf dem jungen, hochmütigen Gesicht, einen kaum sichtbaren Zug um die Lippen, als habe Junker Otte einen widerlichen Geruch gespürt.
Michel wurde das Atmen schwer, er strich sich wieder und wieder über die Stirn.
Heinrich aber erzählte drauflos. Otte Iversen wandte sich vom Tisch ab und schlug die Beine übereinander. Als die Erzählung schliesslich beendigt war, wurde es ganz still, als hätte man seine Verstimmtheit gespürt. Vielleicht merkte Otte Iversen, dass er die Pause verschuldet hatte — er drehte sich zum Tisch um, als wolle er seine Meinung vertreten, und blickte dem Erzähler fest ins Auge.
Heinrich sah ganz betroffen aus. Da aber fuhr Samuel mit einer anderen Geschichte dazwischen. Er war nicht jung und erzählte nicht von Liebe, sondern von einer grossen wahnsinnigen Schlachterei, die er mal mitgemacht, wobei sie den Leuten die Gedärme mit ihren Stiefelhacken aus dem Leib getreten und in ihrem eigenen Mist erstickt hatten. Die Erzählung machte die Luft in der Stube roher und frischer. Clas kam mit eifrigen Kennerfragen, Michel Thögersen musste plötzlich über seinen drolligen Sprachfehler lachen, hob die Nase und platzte los — gru, gru! Da sah Otte Iversen langsam auf und verzog widerwillig die Lippen, und schliesslich legte auch er den Kopf in den Nacken und lachte. Sein Gelächter klang wie eine Knarre. Auf einmal, Punktum, hielt er inne und sass wieder verschlossen da wie vorher.
Kurz darauf brachen sie auf, um noch vor Torschluss in die Stadt zu gelangen. Als sie ins Freie kamen, fühlte Michel Thögersen wieder den Abstand zwischen sich und den Soldaten, hielt sich bescheiden zurück und verabschiedete sich, sobald sie durchs Nordtor gekommen waren. Die Landsknechte gingen tiefer in die Stadt hinein; Michel sah ihnen eine Weile nach, bevor er sich nach links wandte, um nach Hause zu gehen.
Michel Thögersen wohnte in einem Haufe, das dem Palisadenwerk von Pusterwig gegenüber lag; dort bewohnte er eine Bodenkammer zusammen mit einem anderen Studenten, Ove Gabriel. Als Michel hereintrat, sass Ove wie gewöhnlich bei einem Pfenniglicht und studierte; er sah von seinen Büchern auf, las aber gleich weiter.
Michel warf sich vor dem anderen Tischende auf einen Stuhl und wühlte zwischen seinen Kollegheften. Hier hatte er heute morgen aufgehört, und nichts hatte sich seitdem geändert.
Michel atmete geräuschvoll. Da sah Ove Gabriel zu ihm hinüber und wischte sich mit der hohlen Hand langsam übers Gesicht.
„Du hast getrunken“, sagte er. Er stellte es nur fest und sah Michel mit seinen runden, moralischen Augen an, die weder blinzelten noch tränten. Michel Thögersen hatte dieses unverändert laudable Gesicht nun seit drei Jahren vor Augen gehabt, Ove Gabriels beredtes Schweigen hatte jederzeit über ihn zu Gericht gesessen. Ove Gabriels gerechte Augen würden ihm folgen und mit gesetzmässiger Bosheit stechen, bis er auf dem Stuhl verreckte. Über kurz oder lang würde Ove Gabriel bemerken: Erinnere dich, dass es mein Licht ist, bei dem wir studieren.
Michel Thögersen stand auf und öffnete die Dachluke; er war so lang, dass er mit seinem ganzen Oberkörper herausragte. Auf diese Weise pflegte er sich Ove Gabriels Blicken zu entziehen.
Oh! die Luft war kühl, die Sterne blitzten über seinem Kopf. Zu beiden Seiten machten die Strohdächer krumme Buckel, wie Tiere, die mit eingezogenem Kopf schlafen. Unten auf der Strasse wankte der Nachtwächter mit seiner Laterne und leuchtete die verschlossenen Türen ab. Drüben aber, auf der anderen Seite des Palisadenwerkes, glitzerte Wasser, ein Stern spiegelte sich zwischen dem Schilf im Graben. Das Land lag in der Ferne in moosgrüner Dunkelheit, von den Seen erklang lebhaftes Froschkonzert. Die Stadt hatte sich zur Ruhe begeben. Das Wasser schlug leise glucksend gegen die Pfähle im Graben. Eine Katze krümmte sich miauend auf einem Dach.
Michel Thögersen drehte sich in seinem Loch um, legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Schornsteinen und Sternen hinauf. Es schwindelte ihm. Ihm war, als ob er mit nackten Füssen über ein Bund Messer glitt. Aber so war es ihm gerade recht, denn er konnte seine Qual nicht mehr ertragen. Lieber wäre es ihm noch gewesen, wenn er an einem Strick hoch oben unterm Himmel baumelte, diese Stellung würde seinem inneren Schwindel einigermassen entsprochen haben. Michel machte eine Wendung und lehnte seine Arme gegen das kalte Dach.
Susanna! dachte er. Susanna. Und sein Sinn war so weich, dass alle stummen und leblosen Dinge um ihn her Atem und Herz zu bekommen schienen. Die tauben Häuser verhielten sich still, aber drückten eitel Güte aus, die Sterne blinzelten gerührt. Es klopfte ein Puls in der sanften Stille; über die Bucht lief eine Kräuselung, selbst die dunkle Luft schien wie ein Wesen zu erschauern, das sich seines Geheimnisses und Schicksals bewusst ist.
Der Gedanke an Susanna aber machte Michel armselig und boshaft, er lachte höhnisch vor sich hin und richtete sich auf.
Still! Von der Strasse tönten Stimmen herauf. Der Laut rief eine Vorstellung von erleuchteten Räumen und Ereignissen in ihm wach.
Michel Thögersen zog sich wieder in die Kammer zurück. Ove Gabriel stand nackend da, im Begriff, ins Bett zu steigen, seine Augen sprachen von Vollbringung, er leuchtete wie eine stille Wachskerze.
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