Ich lief rot an, holte zwei eisige Flaschen heraus und winkte ihn hinaus zur Bank im Garten. Die zwölf Apostel wiegten sich im Westwind.
»Willst du für die Zeitung schreiben?«
Ich nickte.
»Was willst du schreiben?«
Ich wusste, dass ich jetzt, wo mich 18-Jährigen endlich, erhofft und gefürchtet, ein Erwachsener ernsthaft fragte, was ich mit meinem Leben zu tun gedenke, nicht schweigen durfte. Nicht mit den Achseln zucken und in die Landschaft gucken sollte.
»Ich wusste das nie, was ich wollte. Ich weiß es bis heute nicht. Ich mache nur das, was übrig ist, alles andere will ich noch weniger, verstehst du?« Grieg trank schlürfend. »Ich gucke, was passiert. Und dann erzähle ich das. So mache ich das. Den Rest kann man lernen. Wichtig ist nur, dass man etwas sieht.« Er beendete sein Bier erstaunlich schnell, ließ die Flasche an meine klingeln.
»Ja, Prost.« Ich versuchte meine Stimme.
»Nein, nicht Prost. Lass uns die Flaschen tauschen. Du willst das doch gar nicht trinken.« Er gab mir die Flasche und nahm meine.
»Aber für die Zeitung schreiben, das will ich.«
»Na, also!«
Grieg vermittelte mir den monatlichen Job bei der Zeitung, über neue Schallplatten zu schreiben. Die Pakete mit neuen Alben stapelten sich an manchen Tagen im Apfelhäuschen, zur Freude von Frerk, der so auf mancher Party glänzen konnte.
Es gelang mir, machte sogar Spaß, außerdem freute ich mich über meinen Namen in der Zeitung. Der Schifferpastor war, neben meinem abnehmenden Redakteur, mein schärfster Kritiker. Eines Dienstagabends holte er einen Zeitungsauschnitt aus seiner genarbten, schmalen Ledertasche und verlangte, ich möge ihm die beschriebene und bewertete Schallplatte vorspielen, er könne sonst nicht sagen, ob das, was ich geschrieben habe, gute Arbeit oder aufgeblasenes Gewäsch sei.
Ich ließ die Nadel ein bisschen zu heftig auf die Rille stoßen.
Heinrich Hebarth Neutonsen reagierte heftiger, als wir alle erwartet hatten, auf die Nachricht, dass zwischen Ungarn und Österreich der Eiserne Vorhang geöffnet wurde. Er kaufte diesmal Sahne, wieder einen gesamten Einkaufswagen voll. Nach Tschernobyl hatte er einen großen Vorrat an Nüssen angelegt. Das greise Eichhörnchen von Feddering-Feld, hatten Frerk und ich damals gespottet. Vorher bei der Schneekatastrophe war es Backschokolade gewesen, die er gehortet hatte, der Energie wegen. Nun also die Sahne. Das Ereignis schien uns allen, auch meiner Tante, die die Becher schließlich unter Schimpfen und Drohen in der ganzen Straße verschenkte, zu gering zu sein für einen derartigen großen Ausfall seinerseits. Wir sollten uns getäuscht haben.
Die Mauer fiel pfennigweise. Frerk, Vater und ich frühstückten stets einsilbig. Als Viertes sprach das Radio am Tisch, es sprach für alle mit und wusste auch überhaupt die besseren Neuigkeiten. Am Morgen des zehnten Novembers erst recht. Peer Leversen, mein Vater, setzte seine Kaffeetasse ab und sagte: »Donnerschlag!« Wir guckten und hörten. Wie alle.
Ich hatte in den folgenden Tagen und Wochen damit zu tun, alles mitzubekommen, saß bis nachts vor dem Fernseher, kaufte Zeitungen, auch auswärtige, Wochenblätter, Magazine, um ja alles mitzubekommen. Ich kannte in wenigen Tagen die Mitglieder des Politbüros und die Dissidenten mit Namen und Lebenslauf. Sie wurden für mich zu Hauptdarstellern in einem täglich fortgeschriebenen Stück, ich verliebte mich in Bärbel Bohley, wofür nun wirklich niemand etwas konnte, auch die kleine Isa Vonderbül nicht mit ihrer abweisenden Art, die mich sonst so mitnahm.
Was mich faszinierte, ja berauschte? Wann ändert sich schon die ganze Welt, wann ändern sich Vorzeichen, Landkarten, Wahrnehmungen – und dann auch noch zugleich? Im Nachhinein denke ich, dass es das war, was sich jeder Neunzehnjährige insgeheim oder offen eingestanden wünscht: Endlich. Es war, als könne ich der Welt beim Drehen zusehen.
Paulo konnte man nicht entgehen. Ich nicht, Anna nicht, Philp und der ganze coole Rest nicht. Davon einmal abgesehen, dass man ihn auch brauchte, seine Kontakte, sein gutes Gesichter- und Namensgedächtnis, seinen überaus großen Bekanntenkreis. Er spielte Skat, Doppelkopf, Mau-Mau, selbst Zwicker, Poker, als es noch nicht schick war. In seinem Führerschein stand nicht Paulo, im dicken Buch unserer kleinen Gesellschaft schon. Ralf Paulsen. Paulson. Rallepaul. Rallyepaulchen. Paulo. So. Dieser Beiname war mir immer am liebsten gewesen: Mund. Weil er so viel versprach, ohne es zu halten.
Paulo war mir das erste Mal nach der Schule aufgefallen, als wir ein Spiel hatten, eine Zeitlang gab es das, die vierte Klasse gegen die fünfte, die dritte gegen die vierte und so weiter. Ich hatte um den Mittelkreis mit einigen Klassenkameraden herumgestanden. Paulo, eine drüber, sollte den Anstoß für die anderen machen, einer seiner Kumpels kam nicht, ließ alle warten. Paulo nutzte die Zeit und pinkelte auf den weißen Punkt. Er flog sofort vom Platz, was unser Klasse dennoch nicht viel nützte. Also.
Paulo hatte aktuell mindestens zwei große Fehler, so sah ich es. Erstens, er fuhr oft betrunken. Zweitens, er rief immer wieder bei Nicki an, obwohl das lange schon nichts mehr brachte. Als Ausgleich zu seinen Fehlern war er motorisiert. Fuhr Mofa, Moped, Motorrad, Auto, sobald es ging, also er es konnte. Er war ständig in irgendwelche Unfälle, Führerscheinentzüge, angedrohte Anzeigen und Pannen verwickelt. Er konnte so unglaublich quatschen. Viele andere, Philp und Morphus, Jürgen auch wahrscheinlich, aber der sagte so etwas ja nie, störte Paulos Gerede. Aber ich mochte es. Paulo hatte keine Hemmungen. Man lernte schnell Leute kennen, wenn Paulo dabei war. Ja, auch Mädchen. Also.
Das erste Mal polizeilich auffällig wurde Ralf Paulsen nicht erst, als er 16 Jahre alt war. Nur damals war es zum ersten Mal im Zusammenhang mit einem Fahrzeug. Es war nicht so, dass er gern an Autos und Motorrädern herumschraubte, sich in irgendeiner Garage unter die Dinger legte und ölige, schwarze Finger hatte, die man nicht mehr sauber bekam. Er fuhr nur gern. Ralf Paulsen wollte anscheinend nur weg. Nicht hier bleiben, nicht stillstehen. Nichts verpassen außerdem. Als er 16 Jahre alt war, Frerk erzählte mir Tränen lachend die Geschichte, war Paulo besoffen auf seinem Mofa gefahren. Nun, das kam oft vor. Nur diesmal hatte er, in einer Mischung aus echter Hilfsbereitschaft, Übermut und insgeheimer Sehnsucht nach Absolution, da war ich sicher, schließlich war er katholisch, eine Seltenheit bei uns, nachts einer liegen gebliebenen Polizeistreife seine Hilfe angeboten.
Er wollte fahren, in Bewegung sein, am besten an zwei Orten gleichzeitig. So scheint es mir im Nachhinein nur logisch, dass er an die Grenze fahren wollte. Die Zonengrenze. Heute Nacht noch. Historisch. Klar. Ich sollte mit. Muss man doch erlebt haben. Wir mittendrin.
Mein Vater war aus, Karten spielen, Frerk hatte Holly oben. Ich musste allein entscheiden. Wollte ich nachts mit Rallyepaul quer durch das Land zum Grenzübergang fahren? Getrunken hatte er offenbar noch nicht.
Die Bilder der vergangenen beiden Tage waren berauschend, unwirklich gewesen. An den Grenzübergängen hatten sich Karawanen und Knäuel gebildet. Jetzt, am Wochenende, würden noch mehr Menschen aus der DDR in den Westen strömen.
»Ich weiß gar nicht, was du da lange überlegst.«
»Hast du Bier?«
»Getrunken noch nicht.«
»Aber dabei?«
»Ist doch verboten: besoffen fahren.«
Ich steckte ein bisschen Geld ins Portemonnaie, dieses in die obere Jeansjackentasche, schloss den Knopf, schrieb einen knappen Zettel und stieg ein.
Ich sah ein Dorf durch die Nacht fahren. Es sah so aus. Hinter dem Feld, die Lichter fielen vorbei. Sie aber flogen schneller als die Fenster, die Türlampen, die Laternen.
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