Ocke Bandixen - Grosse Fahne West

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Es gibt keine ostdeutschen Milchflaschen mehr. Dafür aber Westautos, Fertigpizza und eine Menge auszuprobieren. Als 1990 Marx und Lenin im Altpapier landen und die deutsche Einheit kurz bevorsteht, ist Peter mittendrin. Gerade der Schule entwachsen, verbringt der junge Westbürger die drei Monate zwischen Währungsunion und Einheit in der DDR. Zur gleichen Zeit, vermittelt vonKirchenbrüdern, erkundet die gleichaltrige Engellena aus dem Osten Peters Heimat im Westen. Beide staunen und werden bestaunt und merken doch, welche Lügen und Wunden hinter den Fassaden der Familien verborgen sind.Ein Roman wie die Erinnerung an die erste Liebe: süß, traurig, bewegend. Eine Sommerliebezwischen Ost und West mitten in der großen Wendezeit der deutsch-deutschen Geschichte. Der 19-jährige Peter verbringt drei unvergessliche Monate in einer ostdeutschen Kleinstadt. Zu dumm, dass sein Schwarm aus dem Osten in der gleichen Zeit bei ihm zu Hause im Westen ist. Erzählt mit viel Gespür für Zwischentöne und hintergründigem Humor.-

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Ocke Bandixen

Grosse Fahne West

Roman

Saga

Für S.

I. Vorher

1

Wieder finden wir uns ein am Ende eines Jahres, der Hafen ist schon in Sicht, langsam fährt das Schiff ein. Nutzen wir den kurzen Moment der Besinnung und gedenken wir derer und der Dinge, die wir lassen mussten. Die uns aus unserem Leben genommen wurden, deren Gedächtnis wir in Ehren halten wollen.

Doch wenden wir unseren Blick frohgemut auf das neue Jahr. Die drei Bojen liegen voraus, Glaube, Liebe und Hoffnung. Das Schiff liegt bereit für die Reise in das neue Jahr.

Die Dampferpredigt war die alljährliche Predigt des Schifferpastors. Der hielt diese schon so lange, wie die Menschen sich daran erinnern konnten. Jedes Jahr dieselbe. Nur die erwähnten Jahresdaten wurden ausgewechselt. Wilhelm Schiffers schämte sich nicht dafür. In einer Mischung aus Verachtung seinen Spöttern gegenüber, Trotz und Stolz auf die zunehmende Zahl der Gottesdienstbesucher, die inzwischen nur aus diesem Grund am letzten Abend des Jahres in die Kirche kamen, hielt er sie mit den gleichen Worten.

Ich, Peter Leversen, kannte meinen alten Pastor gut, aber ich konnte nicht sagen, ob der Schifferpastor die Predigt inzwischen auswendig konnte oder jedes Jahr aufs neue ablas.

Inzwischen war er pensioniert. Seine weiße, wilde Mähne war dünner geworden. Er harkte sie mit seinen dicken Fingern wie eh nach hinten. Seine Stimme hatte etwas an tönender Kraft verloren, die Brüchigkeit, die der Schifferpastor sonst nur an Satzenden zeigte, hatte zugenommen. Er war noch ein wunderbarer, tröstender Redner. Ich hatte mich neulich beim Geburtstag meines Vaters davon überzeugen können, wo der Schifferpastor eine donnernde Ansprache gehalten hatte.

2

Am Rand, man konnte es nicht anders beschreiben: am Rand. Danach kam nichts mehr. Nur noch Felder, Koppeln, irgendwann die Deiche, dann auch noch die Nordsee, das Wasser, wenn es denn da war. Da war unser Haus.

Apfelhaus. Apfelhäuschen nannte die Familie das kleine weiße Haus mit den schwarzen Schindeln. Und das galt, wie immer, was die Familie sagte.

Die Familie: Tat alles, war alles, wusste alles, regelte alles: was man zu denken und zu meinen hatte, zu reden sowieso. Es ließ ein bisschen nach, jetzt, da so viele ein bisschen alt wurden. Das ganze Bevormunden und Hereinreden, fast fehlte es mir.

Für ein Reetdach hatte es nicht gereicht, pflegte Peer Leversen, mein Vater, zu sagen. Er hatte in das Haus eingeheiratet. Hier weht immer noch eine große Fahne West. Das sagte er oft und meinte den Wind wie den Stolz der Familie. Im Garten, der an der zur See gewandten Seite lag, flatterte so lange ich denken konnte und sicher noch länger eine Friesenfahne zwischen den Bäumen, die dem Apfelhäuschen seinen Namen gegeben hatten. Gold oben, dann rot und unten dann ein leuchtendes Mittelblau. Sie wurde über die Jahre kürzer durch den Wind und alle paar Jahre durch eine neue aus dem scheinbar unerschöpflichen Vorrat meiner Großmutter ersetzt.

Zwölf Bäume standen im Garten. Wie die Apostel, donnerte der Schifferpastor bei jedem Geburtstag, auf den er eingeladen war. Er hätte aus unserem Vater gern einen frommen Menschen gemacht. Zumindest einen so fröhlich-frommen wie dessen Frau Ellen, unsere Mutter, es gewesen war, solange sie lebte. Das mit der Kirche bleibt alles an dir hängen, Peter, hatte er nicht nur einmal zu mir gesagt. Und ich hatte mich bemüht.

Auch Frerk, mein älterer Bruder, hatte kein näheres Interesse am Glauben und Kirchenleben der norddeutschen Kleinstadt Feddering gezeigt. Für ihn war Sport das wichtigere Fluidum für sein Leben. Ich, nicht ganz ohne Neid in meinem Spott, hatte gelästert über den sauren Turnschuhduft der Sporthallen, den schwitzigen Muff der Umkleidekabinen, den dunkelgrünen Sumpf der Fußballplätze, in denen sich mein Bruder so oft bewegte.

Ja, ich war anders. Nicht so schlimm, aber spürbar anders. Der zweite Sohn. Der Augapfel meiner Mutter. Nicht offen fröhlich, aber heiter und optimistisch vom Naturell, würde ich sagen.

Mein Vater Peer, der als Tischler in Anstellung arbeitete, gab sich Mühe, mich zu verstehen, mir nahe zu sein, aber es fiel ihm schwer.

Seine Frau war gestorben, schnell und traurig war das gewesen. Sie hatte ihr Leben gelassen. War fort und konnte nie ersetzt werden.

Das Apfelhaus war danach klarer und weißer. Mehr als vorher. Das war, so schien es mir, das, was bleiben würde. Das Leben war ein paar Grad kälter. Sie fehlte mir unsagbar.

Das Haus erzog mich, zog mich auf, lehrte mich, wann es Zeit war im Jahr, das Küchenfenster zu schließen, im Herbst, wenn die Stürme uns und das Haus auf die Probe stellten. Mein Großvater grüßte noch weißbärtig und grimmig ins Gegenlicht blinzelnd von der Wand. Es war manchmal, als sei er noch nicht richtig fort und tot, so oft sprachen seine Töchter, meine Tanten, von ihm, soviel spürten wir, mein Vater, mein Bruder und ich von seiner Aufteilung der Räume, seinem angelegten Garten. Jeder Nagel war von ihm, jedes Werkzeug in dem Blechkoffer, jeder Holzspan dazwischen. Das Haus sagte mir, wann ich die Hecke schneiden musste, um im Frühjahr morgens schon Licht zu empfangen. Es gab mir zu verstehen, wann es Zeit zum Öffnen und Hinaustreten war und wann man besser drinnen war und die dunklen Gerippe der Bäume gegen das Licht bestaunte. Es lehrte mich Ordnung, Maß und Verantwortung. Mein Vater war da, aber das Haus machte mich groß.

Das Apfelhäuschen hatte einen kleinen Hof. Einem weißen Torbogen, der den Durchgang zum Obstgarten markierte, schloss sich dem Wohnhaus gegenüber ein zweites Häuschen an. Die Sommerküche. Ein Arbeitshaus, Werkstatthaus, Gartenmöbel-unterstell-Haus. Nur schlecht beheizbar, hell, verstaubt. Seit meine Mutter tot war noch mehr. Ab und zu fegte unser Vater das Häuschen zwar und wirbelte den Staub in kleinen Schwüngen auf, danach setzte er sich, der Staub, in Tagen und Wochen, in denen die Sommerküche nicht benötigt wurde, wieder wie eine Schutzschicht auf alles, was sich darin befand. Im hinteren Raum war die Abstellkammer, sie hatte einen zweiten Ausgang zum Garten, allerlei Hacken, Kratzer, Harken drängelten sich an der Wand. Eine Schubkarre wartete auf ein neues Rad oder zumindest einen Flicken im Reifen. Der Rasenmäher tropfte.

Im vorderen Raum war eine funktionstüchtige Küche eingerichtet. Marmelade war hier früher eingekocht worden. Mein Großvater hatte hier mit einem im Wasser heißgemachten Messer seine Bienenwaben aufgeschnitten und geschleudert. Die hölzerne Arbeitsfläche war abgeschrubbt und hell geworden. Ich hatte gute und süße und saure Erinnerungen an den Geruch der Sonnabendnachmittage, wenn meine Mutter mit mir die Gläser gefüllt hatte. Glückliche Tage mit dem Geruch halbvergorener Obstschalen. Ein kleiner Tisch und drei ausrangierte Stühle bevölkerten die Küche, einzelne Kinderbilder von Frerk und mir, Männchen und gekritzelte Kreise hingen gerahmt neben einem Poster für eine längst vergangene Kunstausstellung.

Im Keller, zu dem eine Bodenluke und eine Stiege führten, lagerten die Kompottschätze der Familie, die Fruchtsäfte und die Batterien von Marmeladengläsern. Unsere Tanten sorgten stets dafür, dass jeden Sommer welche dazu kamen. Ich rückte die Jahrgänge nach vorne, um die Reihenfolge in Ordnung zu halten. Die Gläser zu leeren, die Vorräte über den Winter zu verbrauchen, das versuchten wir nicht einmal. Um das reine Verzehren schien es auch nicht zu gehen bei den Vorräten. Sie waren wie ein Sparguthaben, eine Rücklage für schlechte oder zumindest schlechtere Zeiten. Und darüber hinaus ein sichtbares Zeichen der Zuwendung unserer Tanten. Liebe im Glas.

Auch ein Obergeschoss hatte die Sommerküche. Das alte Sofa von drüben stand hier und wurde gelegentlich benutzt. Zum einen, darüber sprach niemand, wie überhaupt über solcherlei Dinge wenig gesprochen wurde, schlief hier unser Vater seinen Rausch aus. Das kam ab und zu vor, ich und Frerk ebenso nahmen es wie gelegentliches Regenwetter hin, dass unser Vater trank. Die Sonne folgte ja meist auf den Regen, warum daraus ein Thema machen?

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