Richard Grosse - Schrittfehler

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Herbst 1980. In der kardiologischen Abteilung einer renommierten Ostberliner Klinik verscheiden merkwürdigerweise Patienten, denen ein Herzschrittmacher eingesetzt wurde. Die betroffenen Männer sind im Rahmen einer groß angelegten klinischen Studie zur Einführung der Schrittmachertherapie operiert worden. Alle litten an einer besonders schweren Form der Rhythmusstörung. Obwohl die Eingriffe komplikationslos verliefen und die Schrittmacher scheinbar störungsfrei arbeiteten, sterben die Männer kurz vor ihrer Entlassung an Herzversagen. Nichts deutet auf ärztliches Fehlverhalten hin. Nach dem dritten Todesfall leitet Major Bircher Ermittlungen ein, die sich zunächst auf die Studiengruppe konzentrieren: Oberarzt Dr. Peter Wohlfahrt, der die Operationen durchführt; Ingenieur Frank Schuster, der im Rechenzentrum die klinischen Daten der Probanden analysiert; Diplom-Biologe Klaus Behrens, der in den Blutproben der Patienten nach Risikomarkern forscht; Dr. Bäsler von der Chirurgie, der ebenfalls am OP-Programm teilnimmt. Zu seiner Verwunderung stellt Major Bircher bald fest, dass die Mediziner und Wissenschaftler noch etwas ganz anderes verbindet – ein spezielles Interesse an Wohlfahrts Ehefrau Renate … Und welche Rolle spielt Behrens' Vater, ein hohes Tier im Ministerium für Gesundheitswesen, in dem ganzen Szenario? Zu einer Zeit, als der Eiserne Vorhang noch klare Grenzen defi nierte, entfaltet sich dieser Krimi als ein subtiles Kammerspiel, das unter die Haut geht!

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Richard Grosse

Schrittfehler

Ein Berlin-Krimi

Kommissar Birchers dritter Fall

Bild und Heimat

eISBN 978-3-95958-803-4

1. Auflage

© 2020 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: ullstein bild - ddrbildarchiv.de / Schönfeld;

SLUB / Deutsche Fotothek (Ärzte)

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Für G.

Die Handlung ist frei erfunden. Jedweder Bezug der Roman­figuren zu realen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

EINS

Reisen gehörte nicht zu Birchers Leidenschaften. Im Ferienhaus war es ihm zu ungemütlich und man musste sich selbst versorgen, wie sollten Karola und er ihrer Leidenschaft nachgehen, abends zu kochen, wenn es nur einen Kochtopf und zwei stumpfe Messer gab; im Hotel störte ihn der Krach, zum Frühstück konnte er weder seine Zeitung lesen noch klassische Musik hören und die Gespräche am Nachbartisch waren ihm so lästig wie das Gedränge am Buffet. Seine Frau Karola sah das alles lockerer, fügte sich aber. Nun jedoch, da sie drei Jahre lang ihre freien Tage im Berliner Umland verbracht hatten, gelang es ihr, ein Machtwort zu sprechen.

»Du musst endlich mal raus in die Republik, Karl, lass uns in die Berge fahren, wo du als Kind wandern warst.«

Bircher wippte nachdenklich mit dem Kopf. Tatsächlich gefiel ihm der Gedanke, die Hauptstadt mitsamt Polizeipräsidium und Morduntersuchungskommission für zwei Wochen hinter sich zu lassen. In die alte Heimat Thüringen reisen, durch die herbstlichen Wälder streifen, wie in der Jugend Thüringer Klöße mit Schweinsbraten genießen, und ohne Telefon am Bett friedlich einschlafen.

»Lass mir zwei Tage, um darüber nachzudenken«, brummte er. Werde mich erstmal im Büro umsehen, ob was Neues anliegt, setzte er in Gedanken hinzu. Karolas Wunsch überraschte ihn nicht. Eigentlich hatte er schon im vergangenen Jahr damit gerechnet, dass sie ihn in den Urlaub drängeln würde, wie er es für sich formulierte. Die Fälle der vergangenen Jahre hatten wenig Zeit zum Träumen gelassen. Sie hat recht, beschloss er. Zeit abzuhauen. Auf in die Berge!

»Einverstanden. Ich habe gerade keinen Fall, also nichts wie weg«, verkündete er zwei Tage später am Abend nach dem ersten Glas Wein.

»Dann lass uns schnell verschwinden, bevor du gerufen wirst.«

»Eben, jedes Jahr kam was dazwischen, meistens ein Verbrecher. Fahren wir also ins betuliche Thüringen, da bin ich nicht zuständig, niemand kann mir den Urlaub unterbrechen, wenn im Gebirge ein Wanderer verstirbt.«

»Na, das fängt ja gut an, deine Vorstellung vom Urlaub«, sagte sie und knuffte ihn vergnügt in die Seite. Endlich mal weg aus Berlin, freute sie sich. Im Unterschied zu ihrem Mann war sie in Berlin aufgewachsen, eine Fahrt nach Thüringen erschien ihr wie eine Reise in ein anderes Land.

Sie begannen, sich einige Wanderstrecken auf dem Rennsteig auszusuchen. Als besondere Herausforderung nahmen sie sich den Aufstieg zum Großen Inselsberg vor.

»Du wirst mal was für dein Gewicht tun, damit dir die Ganoven nicht davonlaufen«, witzelte sie.

»Und du wirst das Rauchen einstellen, damit du und der Wald atmen können«, parierte Karl.

Drei Tage später, an einem freundlichen Septembertag im Jahr 1980, Bircher und seine Frau waren schon dabei, die Urlaubsgarderobe zusammenzustellen, wurde Major Bircher über einen Todesfall auf der kardiologischen Station der Klinik für Innere Medizin in Berlin informiert. An sich nicht seine Sache, wäre es nicht der dritte Patient gewesen, der innerhalb kurzer Zeit unter merkwürdigen Umständen aus dem Leben geschieden war. Die Akte wäre ebenso wie die der beiden Vorgänger auch nicht auf seinem Schreibtisch gelandet, stünden die Todesfälle nicht im Zusammenhang mit einer breit angelegten Studie zum Einsatz der Herzschrittmachertechnik in der Republik, veranlasst von ganz oben. Bircher schob die Akte missmutig zur Seite und seine Augen blinzelten nervös hinter den dicken Brillengläsern. Ihm schwante nichts Gutes, denn die Sache erinnerte ihn sofort an die früheren Vorfälle.

Er hatte vor einigen Wochen vom Tod zweier Patienten in derselben Klinik erfahren und der Akte entnommen, dass die Patienten zuvor mit einem Schrittmacher versorgt worden waren. Die Fälle ähnelten sich, das war Bircher und seinen Kollegen sofort aufgefallen: Der Eingriff verlief in beiden Fällen komplikationslos, die Schrittmacher arbeiteten fehlerfrei und die Patienten standen kurz vor der Entlassung, bevor sie die Frühschicht tot im Bett vorfand. Beide Patienten litten seit Jahren unter schweren kardiovaskulären Vorschäden. Die behandelnden Ärzte verwiesen achselzuckend auf das Restrisiko, bedingt durch die Krankengeschichte der Männer. Bircher und sein Stellvertreter, Oberleutnant Angler, hatten gezögert, Ermittlungen einzuleiten. Gegen wen hätten die sich richten sollen? Und schließlich war die Rede von einer der besten Kliniken der Republik, der vor wenigen Wochen die Verantwortung für die Einführung der Schrittmachertherapie übertragen worden war. Bircher vertraute letztendlich den Ärzten, die darauf bestanden, es sei alles mit rechten Dingen zugegangen, selbst ein Schrittmacher könne nicht alle Herzfunktionen übernehmen.

Er hielt es sowieso für ein technisches Wunderwerk, dass man durch künstlich gesetzte elektrische Impulse ein stotterndes Herz so regulieren konnte, dass es sich wie eine Pendeluhr verhielt, die sekundengenau zur vollen Stunde schlug. Das Aktenstudium erinnerte ihn leider auch daran, dass seit einiger Zeit sein eigenes Herz manchmal wie aus heiterem Himmel »stolperte«. Er nahm es nicht zu ernst und beließ es dabei, kräftig durchzuatmen, wie um neuen Schwung in seine Adern zu pumpen. Er konnte nicht wissen, dass ihn seine Frau einmal abends im Bad dabei beobachtet hatte, wie er zwei Finger auf seinen Puls presste und mit geschlossenen Augen die Schläge zählte. Einige Tage später hatte sie sich heimlich und ganz allgemein bei ihrem Nachbarn erkundigt, was ein unregelmäßiger Puls bedeute.

»Nichts Besonderes, wenn man so viel arbeitet wie der Karl. Extrasystolen können vorkommen. Gib ihm weniger Wein«, hatte der mit ärztlichem Langmut abgewiegelt.

Diesen Rat behielt sie für sich, denn ein Abendessen ohne eine Flasche Wein war für sie beide gleichermaßen unvorstellbar. Das Öffnen der Flasche glich einem Ritual, ähnlich dem Falten der Hände beim Gottesdienst. Seit dem ersten Tag ihrer Ehe wurde am Abendbrottisch der Tag ausgewertet, mit dem Wein als treuem Begleiter.

Als die Nachricht über den dritten Fall eintraf, kam es Bircher wie eine Eingebung vor, denn die Schrittmacher spukten immer mal wieder wie eine Ermahnung zur gesunden Lebensführung in seinem Kopf herum. Der letzte Patient hatte wie die zwei zuvor verstorbenen an der Studie teilgenommen. Wieder war es ein Mann, obwohl die Studie auch Frauen einschloss. Es fiel zudem auf, dass andere Patienten, die zur gleichen Zeit einen Schrittmacher erhalten hatten, ohne an der Studie teilzunehmen, beschwerdefrei entlassen worden waren. Zufall? Zu viele Zufälle, befand Bircher. In ihm leuchtete ein Warnlämpchen auf. Er nahm die Akte, las noch einmal die Namen der beteiligten Ärzte und rief sich den Namen der Station in Erinnerung. Ihm war plötzlich unbehaglich zumute, als müsste er sich einen Fehler eingestehen. Er dachte an Karola und die Wandersachen, die sie sich im Centrum-Warenhaus am Alex gekauft hatte, und war nahe dran, die Akte mit dem Vermerk »Oberleutnant Angler, zur Kontrolle« abzulegen. Warum muss man mir diese Angelegenheit ausgerechnet vor meinem Urlaub auf den Tisch legen? Er schwankte einige Sekunden, dann gewann die Neugierde die Oberhand.

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