Die hundert Mark mussten her, Begrüßungsgeld.
»Ist doch hier der Westen, oder?« Lanz schaute sich um, als sei er ein Tourist auf Weltreise.
Das Rathaus hatte geschlossen, die Post fiel mir ein. Sonnabendsschlange, Pakete, auf die mit dickem, tropfenden Leimpinsel Schilder geklebt wurden. Briefe, die vom alten, gequält unter seiner dicken Hornbrille guckenden Beamten wie mit der Handkante abgestempelt wurden. Wir standen lange, Menschen guckten. Ich genoss es, versuchte höfliche Fragen an unsere Gäste. Lanz verstand mich ohne einen weiteren Hinweis. Parlierte über den Mauerfall, die Veränderungen, die Grenzer, die Polizei. Er machte das so laut, dass die ganze Schlange etwas davon hatte. Ich hielt mühsam ein triumphierendes Grinsen zurück, stolz und bewusst der Lächerlichkeit der Situation. Lanz und ich, wir waren gleich alt, schien mir. Auf jeden Fall gleich in vielen Dingen.
Am Schalter dann holten Tino und Lanz ihre DDR-Pässe heraus und ich sprach mit dem alten Beamten. Die schlechte Laune saß ihm im graugemusterten Pullover. Seine Augen schafften es vor lauter Weltekel nicht mehr, sich ganz zu öffnen. Und nun das: zwei DDR-Jungen, die 100 Mark wollten. Was für ein Vorgang, welche Verordnung, was für ein Stempel? Ich schob die Pässe unter der Scheibe durch. Lächelte. Er würde dieses Erlebnis heute Abend seiner Frau erzählen, da war ich mir sicher, sofern es noch eine bei ihm aushielt. Er hatte tatsächlich zweimal 100 D-Mark Begrüßungsgeld auszahlen müssen. Welcher Stempel nun? Überstieg dies womöglich seine Kompetenz? Er krachte zweimal den Postdatumsstempel in die Pässe. Der Nächste!
Lanz gefiel mir sofort. Der wollte wissen, ohne doof zu fragen. Der kriegte etwas mit. Lanz hatte dunkle Haare, war ein bisschen größer als ich. Hatte einen respektlosen Blick, der kaum nachließ, egal, was passierte.
Lanz hieß eigentlich Thomas Basil Schmidt, den Mittelnamen hatte er von seinem männlichen Vorfahren Basil Marius Hefferkemper, der rund um Zembin ein lokaler Reformator gewesen war.
Freunde waren wir schon nach einer Stunde.
Mir kam es vor, als hätte ich auf so jemanden gewartet, als sei Lanz schon immer da gewesen, nur eben nicht bei mir.
Lanz brauchte Schuhe. Möglicherweise brauchte er auch keine, wollte aber die hundert Mark umsetzen, zumindest einen Teil davon, erleben, wie es war, etwas im Westen zu kaufen.
Schuhe? Ich führte unsere kleine Gruppe zu Schuh-Balzer, wo man in Feddering hinging. Hildegard Balzer kniete im hinteren Teil vor einem Kunden, grüßte winkend zum Zeichen, dass sie unser Eintreten bemerkt hatte.
Ihr Rufen hatte das Erscheinen ihrer Tochter Astrid zur Folge. Sie war so alt wie ich, wir waren gemeinsam in einer Grundschulklasse gewesen. Astrid schlug sich gewinnend die langen Haare nach hinten über die Schulter. Ich begrüßte sie, sie mich, ich stellte die anderen vor, Lanz insbesondere als den mutmaßlichen Kunden.
»Welche Größe? 42 oder 43?«
»Groß auf jeden Fall.« Lanz war nicht unbeeindruckt von der hübschen Astrid. Er überhörte ihren eingeübten Verkäuferinnensingsang, der mich auf Distanz zu ihr hielt.
Astrid schlug vor, pries an, holte Kartons aus dem Lager, das nur aus einem hohen Flur mit Regalen bis zur Decke bestand.
Sie vermied es, Lanz mit »Du« oder »Sie« anzusprechen, ließ die Hände ein ums andere Mal ihre Mähne nach hinten befördern und sprach eine halbe Oktave höher, als sie es sonst tat.
Lanz konnte nicht an ihr vorbeisehen, an ihren körperlichen Vorzügen, er scherzte mit ihr, brachte sie tatsächlich auch zum Lachen, ein Aussetzer ihrer »Schuh-Balzer«-Fassade.
»Willst du jetzt wirklich Schuhe kaufen?«
»Aber ja doch, wo ich doch hundert Mark geschenkt bekommen habe. So läuft das doch mit der Marktwirtschaft, oder?«
»Ja, so läuft das.« Astrid lachte wieder.
»Ist nämlich das erste Mal.«
»Wie bitte?«
»Dass ich was kaufe. Im Westen.«
»Ja, klar!«
»Schuhe. Ist doch gut, brauchst mir jetzt auch keinen Rabatt zu geben. Ostrabatt.«
»Hatte ich nicht vor.« Astrid ließ die Haare vor ihrem Gesicht, während sie Lanz den Schuh zuband. Ich sah, dass es gerötet war.
»Drücken ein bisschen, vor allem der rechte.«
»Müssen erst noch eingelaufen werden, vor allem der rechte.«
»Das ist ja wie bei uns.«
»Willst du jetzt die Schuhe oder willst du sie nicht?«
Openhagen, »wie K’, nur ohne«, bekam einen Hustenanfall, als er wieder in das Gemeindehaus ging.
»Die wollen, dass wir zu ihnen kommen.«
Ich zuckte mit den Achseln. Alles war möglich.
»Willst du?«
»Ja, oh ja, ich möchte unbedingt. Ich war ja schon.«
»Aber das war noch vor dem 9. November.«
»Ja, eben. Deshalb möchte ich auch, ich möchte aber sowieso. Du solltest auch mitkommen. Im Januar, was denkst du?«
»Von mir aus nächste Woche.«
Ich träumte einige Nächte lang einen Wassertraum. Ich lief über einen See, es war nicht das Meer, was uns näher lag und mir ohnehin, sondern ein grün umsäumter See mit dunklen Ringen darauf. Ich lief auf ihm, von einem Ufer ausgehend, nicht einmal vorsichtig und langsam, sondern zügig hinüber. Es war ein großer, wie mir schien, tiefer See, die Tiefen waren dunkel und blauschwarz. Ich lief ohne Angst hin und wunderte mich, dass ich mich nicht wunderte, warum ich nicht versank. Die Luft war kalt, ich atmete rhythmisch, der Weg war weit.
Der Traum kehrte wieder bis zum Neujahr. Ich kam nicht recht vorwärts, so sehr ich mir, sogar im Traum, aber vor allem danach, dies auch vornahm.
Die Dampferpredigt fiel in diesem Jahr länger aus als in den Jahren zuvor. Der Schifferpastor variierte seinen Text um einige Einschübe, die er wie in Klammern brummend nachlegte, um dann wieder in seinem bekannten, schmetternden Tonfall, will sagen, in seinem altbewährten und vertrauten Fahrwasser zu landen.
»Wieder finden wir uns am Ende eines Jahres, der Hafen ist schon in Sicht, langsam fährt das Schiff ein. Nutzen wir den kurzen Moment der Besinnung und gedenken wir derer und der Dinge, die wir lassen mussten. Die uns aus unserem Leben genommen wurden, deren Gedächtnis wir in Ehren halten wollen. Gedenken wir der glücklichen Momente, die wir als Volk der Deutschen im vergangenen Jahr erleben durften, Tage des Aufbruchs, des Friedens und der Hoffnung.
Doch: wenden wir unseren Blick frohgemut auf das neue Jahr. Die drei Bojen liegen voraus, Glaube, Liebe und Hoffnung. Das Schiff des neuen Jahres liegt bereit.«
Es tat gut, ihn zu hören, wie die Glocken, denen ich bis zuletzt in der Kirche sitzend lauschte.
Wir fuhren ein Wochenende lang, Ende Januar, später hätte ich auch kaum noch gekonnt, ich steckte schließlich im letzten Schulhalbjahr, die Prüfungen standen mir bevor.
Openhagen, »wie K’, nur ohne«, Anna und ich fuhren in dem einen Auto. Der Schifferpastor, Jürgen und der kleine Morphus im anderen.
Im nun offenen Berlin waren an Silvester zwei Menschen in der ausgelassenen Feier am Brandenburger Tor um Mitternacht gestorben. Die Wellen, die an den Strand schlugen, wurden kleiner.
Openhagen, »wie K’, nur ohne«, hatte einen Satz Winterreifen dabei, die er in seinen Wagen gequetscht hatte. Auch, weil nur Anna und ich mitfuhren. Er war in keinster Weise betrübt, überstrahlte jede Wolke und hätte sicher die halbe Fahrt über laut gesungen, wenn ich ihn nicht am Ortsausgangsschild gestoppt hatte.
Mein Vater hatte genickt und ein langsames »das mach man« hinterher geschickt, als ich ihm von dem Besuchswochenende in Zembin erzählte.
Mein Bruder nahm die Kopfhörer ab, die mein Vater und ich ihm zu Weihnachten zu unserem eigenen Schutz geschenkt hatten, und nahm mich halb in den Arm. Er nickte, ich erwiderte.
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