»Hitler ist …«, begann er wieder, bevor er von zwei Uniformierten zu Boden gedrückt und aus dem Saal getragen wurde. »Erinnert euch an meine Worte«, kreischte er, während er zwischen den Türen verschwand. Ein Kommunist? Ein Verrückter? Auf jeden Fall gehörte Mut dazu, einen solchen Auftritt hinzulegen.
»Wir haben alles unter Kontrolle«, rief der Mann an Winters Seite. Erwin Holzer. Auch sein Gesicht kannte Hermann aus der Zeitung.
Obwohl alle wieder plauderten und lachten, merkte Hermann, dass die Stimmung gekippt war. Winters Lachen wirkte versteinert. Wie sah es wohl hinter seiner Maske aus?
Strahlend und hell wie ein Komet fuhr Hermann ein Gedanke durch den Sinn. Was, wenn der Mann recht behielt? Einen langen, atemlosen Moment stockten seine Überlegungen, dann rasten sie weiter. Hitler treibt uns alle in den Krieg. Das waren seine Worte gewesen. Auch sein Vater hatte am Tag von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler einen Krieg prophezeit. Steckte doch Wahrheit dahinter? Hermann fühlte sich auf einmal fehl am Platz. Er wünschte sich nach Hause in sein Zimmer. Er wollte zwischen die Seiten eines Buches fliehen, an den Abenteuern und Geschichten seiner Romanfiguren teilnehmen, doch je öfter er sich den Ausdruck von Verzweiflung im Blick des Mannes ins Gedächtnis rief, desto mehr fühlte er, dass er selbst inmitten einer Geschichte steckte. Wie würde diese weitergehen? Konnte er die Handlung mitbestimmen? Hermann war sich mit einem Mal sicher, dass Hitler genau wusste, wie seine Geschichte aussehen sollte. Welche Schauplätze es gab, wo sie hinführte. Nach und nach deckte er eine Seite auf, doch welche Seiten würden bis zum Ende folgen? Wusste er letztendlich schon, wie das Ende aussehen würde?
Mai 1933
Die Anzahl der in Rosenheim lebenden Juden war im Vergleich zu den im Umkreis liegenden Städten hoch. Viele jüdische Familien waren Ende des 19. Jahrhunderts in die Stadt gezogen, da die Wirtschaft lebendig war und sie hier vom Einzelhandel leben konnten. Hans Sternlicht war mit seinen Eltern als Junge von Polen nach Deutschland gekommen und hatte später die Apotheke seines Vaters übernommen. Obwohl er noch Polnisch beherrschte, fühlte er sich hier zu Hause.
Jacob schlenderte nach Schulschluss durch die Straßen. Vorsichtig wie ein Fuchs spitzte er die Ohren, um dem Gerede der anderen Kinder zu lauschen. Er hatte gelernt zu warten, bevor er ihnen in die Falle tappte. Als Boxer kannte er natürlich einige Tricks und war in der Lage sich zu verteidigen, doch schon zweimal hatte ihn Herbert mit seinen Freunden von der Hitlerjugend in eine Sackgasse getrieben und auf ihn eingeschlagen. Wie immer benötigte er seine Eskorte, da er allein nicht den Mumm aufbringen konnte, um gegen Jacob zu kämpfen. Die Schmach bei der Niederlage im Boxen war noch allgegenwärtig. Deshalb mussten immer zwei Jungen Jacobs Arme auf den Rücken drehen und ihn festhalten, wenn Herbert ihm ins Gesicht schlug. Zweimal war er schon mit einem blauen Auge nach Hause gekommen. Simon war jedes Mal ausgerastet, doch als er seinen Bruder rächen wollte, war er selbst mit einer blutigen Lippe nach Hause gekommen. Es waren einfach zu viele Gegner.
Etwas leichter hatte es noch ihr jüngster Bruder Levi. In der Grundschule verstanden die Kinder den Unterschied zwischen einem Juden und einem Deutschen noch nicht richtig und spielten ausgelassen miteinander. Es gab Tage, da beneidete Jacob ihn. Um seine Sorglosigkeit. Um seine Freunde. Um sein Lachen.
In den letzten Monaten war Jacob vorsichtig geworden. Er wechselte täglich seine Route, nahm Straßen, die zunächst in die falsche Richtung führten, nur um Herberts Bande aus dem Weg zu gehen. Nicht weil er die Schläge nicht einstecken konnte. Die Tränen seiner Mutter versetzten ihm jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn er nach einer Schlägerei nach Hause kam. Er fühlte sich schuldig, da er ihr so Kummer bereitete. Seine Sinne hatten sich dadurch geschärft. Jacob konnte mittlerweile die Körpersprache der anderen entschlüsseln, ihre Gespräche belauschen und ihre Fährten lesen. Schon länger hatten sie ihn nicht mehr in die Finger bekommen.
Als Jacob um die Ecke bog, erspähte er Herbert, der mit ein paar Freunden am alten Stadttor lehnte. Wenn er nach Hause wollte, musste er das Tor passieren. Aber er wusste, dass er hier in Sicherheit war. Vielleicht würden sie ihm einige Beleidigungen an den Kopf werfen, ihm drohen, doch einen Angriff mitten auf dem großen Platz würden diese Feiglinge sicher nicht riskieren. Möglichst unauffällig schlenderte Jacob auf sie zu, blieb immer wieder betont fröhlich an einem der Schaufenster hängen und blickte interessiert hinein.
Einer aus der Bande bemerkte ihn und rempelte Herbert mit dem Ellenbogen an.
»Hallo Jude!«, schrie Herbert ihm laut zu, doch Jacob ignorierte ihn und ging gelangweilt weiter. Nur noch wenige Meter trennten ihn von der Gruppe und sein Herz pochte heftig gegen seinen Brustkorb. Warum trieben ihm diese Idioten nur immer den Schweiß auf die Stirn?
»Hörst du jetzt auch noch schlecht? Du hast doch so große Henkelohren.«
»Ach, hallo«, sagte Jacob freundlich und grüßte einen ihrer Stammkunden, der ebenfalls durchs Tor schritt.
»Gibt es Probleme?«, fragte der alte Herr und drehte sich zu Herbert um.
»Nein danke, alles gut.« Am Ende würde es nur noch schlimmer kommen, wenn er Erwachsene um Hilfe bat. Der Mann hielt einen Wimpernschlag inne und setzte dann seinen Weg fort.
»Hast du das schon gesehen?« Herbert deutete auf ein großes Plakat, das nach dem Tor in einem Schaukasten hing. Es zeigte ein blondes Mädchen, das in die Kamera lächelte. Darunter stand irgendein dämlicher Werbespruch für die Partei. Oder war es eine Werbung für den BDM? Jacob hatte bisher noch gar nicht so genau hingesehen.
»Wir haben jetzt eine Berühmtheit in unserer Klasse. Vielleicht müssen wir zukünftig einen Hofknicks machen, wenn Hannah das Klassenzimmer betritt.«
Jacob stockte der Atem. Mit schnellen Schritten ging er auf das Plakat zu und tatsächlich. Sie war es. Hannahs blonde Affenschaukeln. Hannahs Lächeln. Hannahs blaue Augen. Sie trug eine schneeweiße Bluse und so etwas wie eine schwarze Krawatte und blickte mit glänzenden Augen in die Ferne. ›Jugend dient dem Führer‹ stand in großen Lettern über ihrem Bild. Darunter war ein Aufruf vermerkt, dass alle Zehnjährigen sich bei der HJ melden sollten.
»Willst du das Bild jetzt auch noch abknutschen, oder wie?«
Jacob hatte nicht bemerkt, dass seine Finger die Scheibe berührten. Erst jetzt spürte er die glatte Oberfläche und zog die Hand zurück, als hätte er sich auf einer heißen Herdplatte verbrannt. Dann rannte er. Jacob raste in vollem Tempo davon. Ihm war alles egal. Er wollte nur weg. Er schob den Schlüssel ins Schloss und riss die Haustür auf. Als er in den Hausgang stolperte, rannte er in den Keller hinunter und lehnte sich im Dunkeln an die kalte Steinwand. Hastig sog er die Luft ein. Dann sank er in die Hocke. Wie konnte ihn dieses Bild nur so aus der Bahn werfen? Es ist nur ein verdammtes Bild!, versuchte er sich einzureden, doch es gelang ihm nicht. Elsa, Matilda und wie sie alle hießen, die Mädchen an seiner Schule. Warum ausgerechnet Hannah? Warum hatte sie ihm erst noch geholfen und lächelte nun von einem Werbeplakat. Die Jugend des Führers. Sie gehörte nun zu ihnen.
Die Wut kochte in ihm hoch und Jacob merkte erst jetzt, dass er weinte. War er verletzt? Enttäuscht? Zu viele Gefühle stritten in ihm und er drehte sich um und trat mit dem Fuß ein paarmal heftig gegen die Wand. Bis der Schmerz alles andere betäubte und keinen Platz für weitere Gedanken mehr ließ. Jacob wartete noch einige Minuten, bis alle Tränen versiegt waren, dann löste er sich aus seiner Erstarrung und ging die Treppe nach oben bis zur Wohnungstür.
Als er hineinging, fielen ihm sofort die fremden Schuhe auf. Stimmen drangen aus der Küche.
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