Sobald Völkl über die Türschwelle trat, sprangen alle auf und rissen den rechten Arm nach oben. »Heil Hitler«, riefen sie wie aus einem Mund.
»Heil Hitler«, kam es zurück. Stille kehrte ein.
»Packt eure Sachen weg. Anstelle von Biologie haben wir ab heute ein neues Fach.« Er blickte in die Runde. »Rassenkunde.«
Jacob merkte, wie ihm die Wärme ins Gesicht schoss und sein Herz trommelte. Rassenkunde? Das konnte nicht Völkls Ernst sein.
»Ihr wisst, dass es bei Hunden verschiedene Rassen gibt. Ein Schäferhund, der sehr gelehrig ist, dem man viel beibringen kann, ist nicht mit einem Dackel zu vergleichen. Auch bei Pferden gibt es stolze Reitpferde, mit denen man Preise gewinnen kann, und es gibt gewöhnliche Ackergäule, die einen Pflug ziehen. Hier würde keiner die Tatsache in Frage stellen, dass es Unterschiede zwischen den Rassen gibt, obwohl alle zur selben Tierart gehören.«
Die Klasse lauschte. Viele Kinder hingen interessiert an Völkls Lippen. Jacob beobachtete Hannah, die an ihren Fingernägeln kaute. Er kannte sie schon zu lange. Es war Unsicherheit. Wusste sie, worauf das Ganze hinauslaufen würde? Mochte sie ihn womöglich doch noch?
»Jetzt stellt sich mir die Frage, weshalb es bei Tieren zu dieser Einteilung kommen kann, aber beim Menschen nicht, wo es doch auch bei uns unübersehbare Unterschiede gibt. Auch bei uns gibt es sogenannte Schäferhunde, eine Elite. Und es gibt sogenannte Promenadenmischungen. Viecher, bei denen man besser daran täte, sie als Welpen in einer Regentonne zu ersäufen.«
Herbert Bauer nickte eifrig und drehte sich zu Jacob um. Dem Jungen fiel der Boxkampf ein, bei dem Herbert geschworen hatte, ihn vollständig zu zerstören. Der Zeitpunkt dafür schien näher zu rücken.
»Auch beim Menschen kann man schon allein das Aussehen ansprechen. Ein Neger sieht völlig anders aus als ein Arier. Schließlich ist er rußschwarz. Ein Jude sieht ebenso völlig anders aus als ein Arier.«
Jacob hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Mit den Händen klammerte er sich an seiner Tischkante fest. So fest, dass die Knöchel weiß wurden.
»Beschäftigen wir uns heute erst einmal mit den äußeren Merkmalen eines Juden. Ein Neger ist schon fast zu einfach. Da könnte mir ein Kleinkind alle Unterschiede sofort aufzählen. Glücklicherweise haben wir auch keinen in der Klasse sitzen.« Er schien in Gedanken zu sein und schüttelte angewidert den Kopf. »Ich werde beim Direktor einen Klassenausflug beantragen, damit wir gemeinsam eine Völkerschau besuchen können. Dann hat jeder von euch die Möglichkeit, sich selbst ein Bild zu machen.« Er rieb die Hände aneinander. »Aber jetzt zu den Juden. Die kennt ihr ja aus dem täglichen Leben. Merkmale?«, fragte Völkl in die Klasse.
Herberts Hand schoss so schnell in die Luft wie eine Kanonenkugel. Sein Hintern berührte schon gar nicht mehr die Sitzfläche seines Stuhles.
»Ja, bitte, Herbert?«
»Juden sind raffgierig, betrügerisch und hinterhältig«, sprudelte es aus ihm heraus und er bleckte die Zähne zu einem kalten Lächeln, während er wieder Jacob anstierte.
»Ich wollte zwar vielmehr auf die äußeren Merkmale hinaus, aber das ist natürlich alles richtig, was du gesagt hast.« Völkl nahm die Kreide aus dem Behälter und schrieb das Wort ›Jude‹ mit großen Lettern an die Schiefertafel. Außen herum notierte er die Adjektive, die Herbert gerade genannt hatte.
»Noch jemand?«
Zögerlich wachte die Klasse auf und immer mehr Kinder hoben die Hand, um zu antworten.
»Christusmörder«, rief ein Junge aus der zweiten Reihe.
Das Wort schien Völkl besonders gut zu gefallen, da er es sogar doppelt unterstrich. Um das Schlagwort ›Jude‹ sammelten sich nun mehr und mehr Begriffe. Jedes der Wörter schmerzte wie ein Peitschenhieb, und Jacob wünschte sich in diesem Moment, dass es noch einen wie ihn in der Klasse gäbe. Einen zweiten Juden, damit er die Gemeinheiten leichter ertragen konnte. Geteiltes Leid.
Alle schienen etwas zu sagen zu haben, bis auf Hannah. Ihre Hand blieb unten, die Lippen unbewegt. So keimte trotz allem etwas Freude in ihm auf, dass Hannah stumm blieb.
»Jetzt haben wir die Charakterzüge der Juden besprochen. Aber es gibt natürlich auch die Äußerlichkeiten, an denen ihr einen Juden sofort erkennen könnt.«
Herbert streckte die Hand wieder nach oben. Endlich hatte er ein Fach gefunden, in dem auch er punkten konnte. Sonst gehörte er nicht zu den hellen Köpfen in der Klasse. Nicht umsonst drehte er die zweite Ehrenrunde.
Jacobs Wut schlug um in Hass. Hass auf Herbert, der selbstgefällig grinste und so viele Gemeinheiten sagte. Hass auf den Lehrer, der dieses dämliche Fach angefangen hatte. Hass auf die Schule. Hass auf sich selbst, da er Jude war. Tränen stachen in seinen Augen, doch er konnte sich nicht die Blöße geben und losheulen. Er musste weit weg von hier. An einen Ort, an dem es ihm gutging. Wie war es mit dem Wald? Jacob versuchte, das Harz der Kiefern zu riechen. Den Gesang der Vögel zu hören. Den Ausblick vom Gipfel eines Berges zu sehen.
»Hakennase. Engstehende Augen. Kurze Stirn. Wulstige Lippen. Dunkle, krause Haare.«
Völkl nickte beeindruckt. »Ausgezeichnet, Herbert. Ich trage dir deine erste Eins in Rassenkunde ein. Ich nehme an, dass du auch schon mit deinen Eltern viel über dieses Thema gesprochen hast?« Herbert nickte eifrig.
Hannahs beste Freundin Elsa, die hervorragend malen konnte, durfte nach vorne kommen und ein Portrait eines Juden zeichnen.
»Vergiss die Plattfüße und die krummen Beine nicht, Elsa«, erinnerte sie Völkl. An der Tafel prangte nun eine entsetzliche Karikatur, die eher einem Dämon glich als einem Menschen.
»Hannah?« Das Mädchen zuckte zusammen, als hätte es gerade einen Stromschlag erhalten. »Komm bitte nach vorne.«
Mit einem Mal war Jacob wieder da. Seine Gedanken, die ihn weit weggetragen hatten, waren zurück. Zurück in der Realität. Zurück im Klassenzimmer. Hannahs Mund stand leicht offen und ihre Finger zitterten, als sie neben den Lehrer trat.
»Eine arische Schönheit«, lobte der Lehrer, als wäre Hannah ein Gemälde und kein Mensch aus Fleisch und Blut. Er nahm den Zeigestab heraus und Hannahs Wangen färbten sich in Erwartung eines Hiebs kalkweiß. »Blaue Augen. Blonde Haare. Ein symmetrisches Gesicht.« Das Ende des Zeigestabs berührte fast ihr Gesicht. »Schlanker Körperbau. Gerade Beine.« Jacobs Blick fiel auf ihre Füße, die in geschlossenen Sandalen steckten.
»Noch ist ihr Becken schmal, aber es wird etwas breiter werden, damit sie dem Führer schon in ein paar Jahren arische Kinder gebären kann. Dafür muss sie sich natürlich mit einem arischen jungen Mann paaren.« Hannahs Gesichtsfarbe glich einer Chilischote und sie schielte auf Völkl, während der den Zeigestab an ihrer Hüfte hoch und runter führte. »Auch die anderen Geschlechtsmerkmale sind noch nicht richtig ausgereift.«
Jacob war völlig klar, worauf Völkl als nächstes zeigen würde. Er schien komplett übergeschnappt zu sein. Solche Themen wurden sonst hinter vorgehaltener Hand besprochen. Im Flüsterton. Nicht beim Namen genannt.
Jacob musste ihr aus dieser Situation helfen. Koste es, was es wolle. Wie automatisiert bewegten sich seine Beine und er ging zwischen den Bänken nach vorne. Einige starrten ihn überrascht an, als er an ihnen vorbeischritt.
»Was zum Teufel suchst du hier vorne?«, herrschte ihn Völkl an. In Hannahs Gesicht standen Überraschung und Entsetzen gleichermaßen.
»Sie wollten doch mit den Äußerlichkeiten des Juden weitermachen. Ich dachte, dass ich schon einmal vorkomme, jetzt, wo der Arier fertig ist.«
Völkl kniff die Augen zusammen, sofern das bei seinen kleinen Schlitzen überhaupt noch möglich war. Aber er nickte.
Jacob stellte sich neben Hannah.
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