Fechten, in Belgien fast ausschließlich ein Zeitvertreib der Aristokratie, sollte ursprünglich in den Gärten des Egmont-Palasts in Brüssel stattfinden, wurde dann aber in einen kolonialen Messesaal im Antwerpener Middelheimpark verlegt. So oder so eine angemessene Örtlichkeit. Der große Star war der unvergleichliche Italiener Nedo Nadi, der fünf Medaillen gewann. Ostende war Schauplatz des Polo-Turniers, bei dem die amerikanischen und britischen Teams ausschließlich aus Offizieren bestanden, die Spanier bis auf den letzten Mann blaublütige Aristokraten waren und die Belgier aus den Reihen des Großbürgertums stammten. Eine ähnliche soziale Mischung herrschte auch im Pferdesport, Modernen Fünfkampf und beim Schießen vor.
Was die Klassenzugehörigkeit anging, war Rudern bei den Spielen von 1920 ein Grenzbereich. Der Sport selbst war gespalten zwischen den Gentlemen-Amateuren der Eliteuniversitäten und Privatklubs einerseits und einer Arbeitertradition aus Bootswettrennen, Geldpreisen, Uferfesten und Glücksspiel andererseits. Es war ein Konflikt, der dem Rennen im Ruder-Einer besondere Bedeutung verlieh. Darin traf der amerikanische Maurer John B. Kelly auf den britischen Fabrikantensohn und Armeeoffizier Jack Beresford. Die soziale Kluft zwischen den beiden Favoriten auf Gold war zu einem früheren Zeitpunkt in der Saison zutage getreten, als Kelly von der prestigeträchtigen Henley-Ruderregatta ausgeschlossen wurde, da die Richtlinien des britischen Amateurruderverbands die Teilnahme von Handwerkern untersagten – ein Makel, der auf Beresford gewiss nicht zutraf.
Diesmal würde das Duell zwischen den beiden nicht an dem von Bäumen und gemähten Wiesen gesäumten Ufer der Themse stattfinden, sondern auf dem Canal de Willebroek in der Nähe von Brüssel, einem trüben Abwasserlauf mit Blick auf Staubecken, Öltanks und schmutzige Fabrikmauern. Coubertin sprach von »einem Ort, der so grässlich war, dass keinerlei Versuche unternommen wurden, seine Scheußlichkeit zu verbergen«. Kelly holte die Goldmedaille und danach noch eine weitere im Doppelzweier. Auch im Achter – der prestigeträchtigsten Entscheidung, bei der üblicherweise die Besatzungen der Eliteschulen unter sich waren – triumphierten die Amerikaner, mit einer Mannschaft disziplinierter Marinesoldaten und einer ansehnlichen Begleitcrew aus Ersatzruderern, Ärzten, Köchen und Masseuren. Beresford erachtete ihre Methoden als »eine Offenbarung … sie waren prachtvolle Männer«. 5Das Zeitalter der Gentleman-Amateure sah sich den Angriffen sowohl der niederen Stände als auch des skrupellosen Rationalismus der Staatsbürokratie ausgesetzt.
Ohne jeden Sinn für Ironie konstatierte der offizielle Bericht zu den Spielen, dass »der große Zoologie-Saal besonders angemessen ist für das Boxen und Ringen«. In jedem Fall waren es die Sportarten, die am ehesten eine raue lokale Klientel anlocken würden. Zwischenzeitlich war die Nachfrage nach Eintrittskarten so groß, dass sich die Zooleitung und die dicht gedrängte Reihe der Tierpfleger einschalten mussten, um die Menge zu bändigen. Als Hafenstadt mit einschlägigen Vierteln konnte Antwerpen auf eine lange Tradition harter Männer und einheimischer Champions in beiden Sportarten verweisen, aber da die besten im Profizirkus unterwegs waren, lieferten die verbliebenen Lokalmatadore eine erbärmliche Vorstellung ab. Die Sport Revue nahm die Sportler in Schutz: »Wir haben erst seit Kurzem wieder Weißbrot und Kohle und all die anderen Dinge, die erforderlich sind, um unsere körperliche Konstitution zu stärken.« Ein Mitglied der finnischen Delegation äußerte sich bemerkenswert unverblümt: »Eure Rassen, von Krieg und Alkohol verschandelt, sind der unseren weit unterlegen. Ihnen fehlt Durchhaltevermögen, sie kleiden sich zu warm, obwohl sie in einem recht milden Land leben.« 6
In zwei anderen populären Sportarten, Bogenschießen und Gewichtheben, waren aber auch einige Erfolge zu verzeichnen, vor allem für das flämische Antwerpen: Hubert Van Innis gewann viermal Gold und zweimal Silber im Bogenschießen, u. a. in der örtlichen Kuriosität Vogelschießen, bei dem statt auf ferne Ziele auf gefiederte Holzvögel auf einer hohen Stange geschossen wurde. Im Gewichtheben holte Frans De Haes Gold im Federgewicht und wurde gerühmt als »dieses wahre Kind Antwerpens, dieser unverfälschte seijnoor «. Selbst Mitglied der rechtsnationalen Frontpartij, geriet De Haes’ Triumph zu einer öffentlichen und politischen Feier des flämischen Separatismus. 7
Keine dieser Sportarten konnte es aber mit der Popularität des Fußballs aufnehmen. Obwohl ursprünglich ein Spiel der belgischen Oberschicht, die es von ihren Standesgenossen in England oder Gaststudenten gelernt hatte, hatte es sich rasch bis in die urbane Arbeiterklasse ausgebreitet. Das Fußballturnier wurde in Antwerpen, Gent und Brüssel ausgetragen und lockte mehr Zuschauer an als alle anderen Wettbewerbe zusammen. Am Tag des End-spiels zwischen Belgien und der Tschechoslowakei war das Olympiastadion gar ausverkauft, und einheimische Jugendliche buddelten einen Tunnel – vom Volksmund »olympischer Graben« getauft –, um auf die Ränge zu gelangen. Jean Langenus, ein belgischer Schiedsrichter, erinnerte sich: »Der olympische Graben war zu einem enormen Portal angewachsen, durch das Tausende hineinkamen. Rund um das Stadion hingen Fans wie Trauben von den Kolonnaden und Bäumen.« 8Belgien ging früh mit zwei Toren in Führung, während die Tschechen sich auf eine recht ruppige Spielweise verlegten. Als der Schiedsrichter kurz vor der Halbzeitpause dem tschechischen Verteidiger Karel Steiner wegen eines groben Foulspiels die Rote Karte zeigte, verließ die ganze Mannschaft geschlossen das Feld und schenkte das Spiel ab. Die Belgier waren Olympiasieger, und die Zuschauer stürmten den Rasen, rissen eine tschechische Fahne nieder und trugen die Spieler auf den Schultern.
Der offizielle Bericht sparte nicht mit überschwänglichem Eigenlob: »Trotz der schwierigen politischen, ökonomischen und sogar meteorologischen Bedingungen … wurden die Spiele der VII. Olympiade mit Meisterschaft, Perfektion und Würde abgehalten.« Eine Meinung, die kaum jemand teilte. Die heimische Presse, ungewohnt einig über die sprachlichen Grenzen hinweg, befand, dass die Spiele in ihrer eigenen bourgeoisen Blase stattgefunden hätten: »Es war nur wenig Interesse seitens größerer Kreise zu spüren. … Darüber hinaus scheint die ganze Olympiade keinen Bezug zum einheimischen Leben zu haben.« Noch schärfer urteilte Ons Volk : »Die Olympiade von Antwerpen scheint hinsichtlich der Beteiligung der Wettkämpfer ein Erfolg gewesen zu sein. Was das öffentliche Interesse anbelangt, war sie ein Fehlschlag.« 9Ihren Zweck erfüllt hatte sie sicherlich in Bezug auf bestimmte private Interessen. Der Beerschot Club hatte ein neues Stadion, die Familie Grisar, der weite Teile des Bodens rund um das Stadion gehörten, freute sich über einen beträchtlichen Zuwachs ihrer Grundstückswerte, und als schließlich herauskam, dass die Spiele ein erhebliches Defizit eingefahren hatten, bekam das geplagte belgische Olympische Komitee die Rechnung präsentiert, die diskret von der Regierung übernommen und auf den belgischen Steuerzahler umverteilt wurde. Die Spiele von Antwerpen mochten antiquiert gewirkt haben und noch dem Geist der Belle Époque verhaftet gewesen sein, aber zumindest in dieser Hinsicht waren sie zukunftsweisend.
VIER
Die Teilnahme von Frauen am Sport hatte in Europa und Nordamerika seit Ende des 19. Jahrhunderts stetig zugenommen. Vorerst ging es jedoch nur um Leibeserziehung und nicht um sportlichen Wettstreit. Dies änderte sich mit Beginn des Ersten Weltkriegs, und Großbritannien, die Vereinigten Staaten und Frankreich bildeten die Speerspitze dieses Wandels. Die massenweise Einberufung junger Männer bedeutete, dass Frauen in großer Zahl gebraucht wurden, um deren Stellen auf dem industriellen Arbeitsmarkt zu besetzen. Im Transportwesen, in der Rüstungsindustrie und in Fabriken wurden sie nun zu Zehntausenden beschäftigt, was vor dem Krieg für Frauen tabu war, weil die Arbeit generell als körperlich zu anstrengend für so zarte Geschöpfe erachtet wurde. Ermächtigt und ermutigt, standen dieser Generation von Frauen zudem die bis dahin Männern vorbehaltenen Freizeiteinrichtungen wie werkseigene und kommerzielle Sportklubs sowie staatliche Sportplätze zur Verfügung.
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