»Nein, Shandon«, fuhr Hatteras fort, »nehmen wir die beiden Fälle in Betracht: Entweder das Meer ist eisfrei oder nicht, und mögen wir das eine annehmen oder das andere, so kann uns nichts hindern, zum Pol zu gelangen. Ist es frei, so wird uns der Forward leicht hinbringen; ist er von Eis umgeben, so führen wir es auf unseren Schlitten aus. Sie werden mir zugeben, dass dies nicht unausführbar ist; sind wir einmal mit unserer Brigg bis zum dreiundachtzigsten Grad gedrungen, so haben wir nur noch sechshundert Meilen bis zum Pol zu machen.«
»Und was wollen sechshundert Meilen bedeuten«, sagte der Doktor lebhaft, »wenn es man weiß, dass ein Kosacke, Alexis Markoff, auf dem Eismeer längs der Nordküste Russlands mit Schlitten von Hunden gezogen eine Strecke von achthundert Meilen binnen vierundzwanzig Tagen zurückgelegt hat.«
»Hören Sie das, Shandon«, erwiderte Hatteras, »und sagen Sie mir, ob die Engländer weniger zustande bringen als ein Kosack?«
»Nein, gewiss nicht!« rief hitzig der Doktor aus.
»Nein, gewiss nicht!« stimmte der Rüstmeister ein.
»Nun, Shandon?« fragte der Kapitän.
»Kapitän«, erwiderte Shandon kalt, »ich kann nur wiederholen, was ich vorhin gesagt habe: Ich werde Gehorsam leisten.«
»Gut. Jetzt«, fuhr Hatteras fort, »denken wir an unsere gegenwärtige Lage. Wir stecken im Eise fest, und es scheint mir unmöglich, dass wir noch dieses Jahr bis zum Smith-Sund dringen können. Sehen Sie nun, was am besten zu tun ist.«
Hatteras breitete auf dem Tische eine der trefflichen Karten aus, welche im Jahre 1859 auf Befehl der Admiralität herausgegeben wurden.
»Wollen Sie mir freundlicherweise folgen. Wenn uns der Smith-Sund versperrt ist, so ist es an der Westseite des Baffins-Meeres mit dem Lancaster-Sund nicht ebenso; meiner Ansicht nach müssen wir diesen bis zur Barrow-Straße hinauffahren, und von da bis zur Insel Beechey; Segelschiffe haben diesen Weg hundertmal gemacht; mit einer Schraubenbrigg werden wir keine Schwierigkeiten haben. Sind wir einmal bei der Beechey-Insel, so fahren wir den Wellington-Kanal so weit als möglich hinauf nordwärts bis zum Ausfluss des Fahrwassers, welches die Verbindung des Wellington-Kanals mit dem Kanal der Königin bildet, an eben der Stelle, wo man das freie Meer gewahrte. Nun sind wir jetzt erst am 20. Mai; in einem Monat, wenn es gut geht, werden wir diesen Punkt erreicht haben, und von da aus dringen wir weiter nach dem Pol zu. Was halten Sie davon, meine Herren?«
»Offenbar«, erwiderte Johnson, »ist dies der einzige Weg, den wir zu nehmen haben.«
»Nun, so wollen wir ihn einschlagen, und gleich morgen. Dieser Sonntag sei der Ruhe gewidmet; Sie werden dafür sorgen, Shandon, dass der Gottesdienst regelmäßig stattfindet; die Religion wirkt wohltätig auf den Geist, ein Seemann darf das Vertrauen auf Gott nicht verlieren.«
»Sie haben recht, Kapitän«, erwiderte Shandon und ging mit dem Lieutenant und dem Rüstmeister hinaus.
»Doktor«, sagte John Hatteras, und wies auf Shandon, »das ist ein gedrückter Mann, den der Hochmut verdorben hat; ich kann nicht mehr auf ihn rechnen.«
Am folgenden Morgen ließ der Kapitän in aller Frühe das Boot ins Meer bringen und untersuchte die Eisberge des Beckens, welche nicht über zweihundert Yard dick waren. Er nahm sogar wahr, dass infolge eines allmählichen Druckes der Eisblöcke das Becken enger zu werden drohte; es wurde daher dringend nötig, eine Bresche zu schaffen, damit das Schiff nicht zwischen diesen Bergen wie in einem Schraubstock zertrümmert werde. Aus den von John Hatteras angewendeten Mitteln sah man wohl, dass es ein energischer Mann war.
Er ließ fürs erste Stufen in die Eiswand hauen und erstieg auf denselben den Gipfel eines Eisbergs; von da aus erkannte er, dass nach Südwesten leicht ein Ausgang zu bahnen sein würde. Auf seinen Befehl wurde fast in der Mitte des Berges eine Sprenggrube gemacht, eine Arbeit, die rasch vorgenommen, im Verlauf des Montags fertig wurde.
Hatteras konnte von seinen Sprengzylindern zu acht und zehn Pfund Pulver keinen Gebrauch machen, weil bei solchen Massen ihre Wirkung unbedeutend gewesen wäre; sie waren nur zum Zersprengen der Eisfelder tauglich. Er ließ daher tausend Pfund Pulver in die Grube schaffen und die Richtung der Explosion sorgfältig berechnen. Eine lange, mit Guttapercha umgebene Lunte führte aus dieser Mine nach außen. Der zu der Grube führende Gang wurde mit Schnee und Eisstücken ausgefüllt, welche in der folgenden Nacht so hart wie Granit zusammenfroren. In der Tat sank die Temperatur unter Einwirkung des Ostwinds auf zwölf Grad (-11° hundertteilig).
Am folgenden Morgen um sieben Uhr hielt sich der Forward mit geheizter Maschine bereit, den geringsten Ausweg zu benutzen. Johnson erhielt den Auftrag, die Mine anzuzünden; die Lunte war so berechnet, dass sie eine halbe Stunde zu brennen hatte, bevor das Feuer zum Pulver gelangte. Johnson hatte daher hinreichend Zeit, wieder an Bord zu kommen, und er war auch schon zehn Minuten nach Ausführung seines Auftrags wieder an seinem Posten.
Die Mannschaft befand sich auf dem Verdeck; das Wetter war, nachdem es aufgehört hatte zu schneien, trocken und ziemlich hell; Hatteras stand mit Shandon auf der Kampanie, und der Doktor zählte die Minuten auf seinem Chronometer.
Um acht Uhr fünfunddreißig Minuten hörte man eine dumpfe Explosion, die weit weniger laut war, als man vorausgesetzt hatte. Die äußere Gestalt der Berge änderte sich wie bei einem Erdbeben plötzlich; dicker, weißer Rauch drang in beträchtlicher Höhe in die Lüfte; die Seiten des Eisbergs zerspalteten sich in langen Rissen, und sein oberer Teil wurde weit fortgeschleudert, sodass seine Trümmer um den Forward umher niederfielen.
Aber der Weg war noch nicht frei; ungeheure Eisstücke blieben auf die benachbarten Berge gelagert in der Luft schweben und ließen befürchten, sie möchten herabfallend die Öffnung wieder schließen.
Hatteras erkannte mit einem Blick was not tat.
»Wolsten!« rief er.
Der Waffenschmied erschien.
»Kapitän!«
»Laden Sie das Geschütz auf dem Vorderteil dreifach«, sagte Hatteras, »und stoßen Sie die Ladung möglichst stark.«
»Also wollen wir das Gebirge mit Kanonenkugeln angreifen«, fragte der Doktor.
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