1 ...7 8 9 11 12 13 ...31 Dafür hatte er wohl seine Gründe.
Es schlug zehn Uhr; elf sogar. Gegen ein Uhr nachmittags sollte die Flut fallen. Shandon warf vom Hüttendeck aus einen unruhigen Blick auf die Menge; die Matrosen vollzogen schweigend seine Befehle, stets die Augen auf ihn gerichtet, in Erwartung einer Mitteilung, welche ausblieb.
Meister Johnson machte segelfertig; es war bedeckter Himmel, und vor den Bassins draußen ging die See sehr hohl; es wehte ein ziemlich starker Südost, doch konnte man leicht aus der Mersey herauskommen.
Um zwölf Uhr noch nichts. Der Doktor Clawbonny ging unruhig auf und ab, lorgnettierte, 1gestikulierte. Er fühlte sich aufgeregt, was er auch tun mochte. Shandon biss sich die Lippen blutig.
Jetzt trat Johnson heran und sagte zu ihm:
»Kommandant, wollen wir die Flut benutzen, so dürfen wir keine Zeit verlieren; vor Ablauf einer guten Stunde kommen wir nicht aus den Docks heraus.«
Shandon blickte noch einmal umher und sah auf seine Uhr. Die Zeit der Briefausgabe zu Mittag war vorüber.
»Wohlan denn!« sagte er zu seinem Rüstmeister.
Dieser rief den Zuschauern zu, das Verdeck zu räumen.
Es entstand eine rege Bewegung, indem die einen auf den Kai eilten, die anderen die Taue lösten.
In der Verwirrung, da die Matrosen ohne viel Rücksicht die Neugierigen wegtrieben, hörte man den Hund heulen.
Abfahrt des Forward
Dies Tier sprang auf einmal vom Vorderkastell mitten durch die dichte Menge. Man wich ihm aus; er sprang auf das Hüttendeck, und – tausend Zeugen sahen es – der Kapitän Hund hielt zwischen den Zähnen einen Brief.
»Ein Brief!« rief Shandon. »Aber da ist er ja an Bord?«
»Da gewesen ist er ohne Zweifel, aber nun ist er nicht mehr da«, erwiderte Johnson und zeigte auf das nun völlig geräumte Verdeck.
»Kapitän! Kapitän! Ici!« 2rief der Doktor und versuchte den Brief zu nehmen, aber der Hund wich ihm aus mit lebhaften Sprüngen. Es schien, er wolle seine Botschaft nur Shandon selbst einhändigen.
»Kapitän, ici!« rief dieser.
Der Hund kam herbei; Shandon nahm ihm den Brief ab, und Kapitän bellte dreimal laut beim tiefen Schweigen der Menge.
Shandon zögerte den Brief zu öffnen.
»Ei, so lesen Sie doch! Lesen Sie!« rief der Doktor. Shandon sah ihn an. Die Adresse, ohne Ort und Datum lautete:
»An den Kommandanten Richard Shandon, an Bord der Brigg Forward.«
Shandon öffnete und las:
»Sie fahren nach dem Kap Farewell zu. Am 20. April werden Sie dort eintreffen. Wenn der Kapitän sich da nicht an Bord einfindet, fahren Sie durch die Davis-Straße und das Baffins- 3Meer hinauf bis zur Melville-Bai.
Der Kapitän des Forward.
K. Z.«
Shandon legte den lakonischen Brief sorgfältig zusammen, steckte ihn in seine Tasche und gab Befehl zur Abfahrt. Seine im Pfeifen des Ostwindes hallende Stimme hatte etwas Feierliches.
Bald war der Forward aus den Bassins heraus und fuhr, von einem Lotsen aus Liverpool geleitet, die Strömung des Mersey. Die Menge stürzte auf den äußeren Kai längs der Docks Victoria, um das seltsame Schiff noch einmal zu sehen. Die Mastbäume waren rasch aufgerichtet, die Segel aufgehisst, und mit deren Beistand fuhr der Forward, nachdem er um die Spitze Birkenhead gebogen, äußerst schnell ins Irländische Meer.
1 durch die Lorgnette betrachten: scharf ansehen, genau beobachten <<<
2 Hierher <<<
3 Die Baffin Bay, Baffin-Bucht oder Baffinbai ist ein nördliches Randmeer des Atlantischen Ozeans. <<<
Fünftes Kapitel – Auf hoher See
Der Wind war ungleich, doch günstig, mit starken Aprilstößen. Der Forward durchschnitt rasch das Meer, und seine Schraube beseitigte jedes Hindernis. Gegen drei Uhr kreuzte er mit dem Postdampfer zwischen Liverpool und der Insel Man. Der Kapitän rief ihn von seinem Bord aus an, das letzte Lebewohl, welches die Mannschaft des Forward zu hören bekam.
Um fünf Uhr gab der Pilot die Leitung des Schiffes an Richard Shandon zurück, und sein Kutter 1verschwand bald im Südwest.
Gegen Abend fuhr die Brigg um das Südende der Insel Man. Während der Nacht ging das Meer sehr hohl; der Forward hielt sich gut, ließ die Spitze von Ayr nordwestlich und steuerte dem Nord-Kanal zu.
Johnson hatte recht; auf dem Meer gewann bei den Matrosen die Liebe zur See die Oberhand. Beim Anblick der Trefflichkeit des Fahrzeugs vergaßen sie das Besorgliche ihrer Lage. Das Leben an Bord gestaltete sich regelmäßig.
Der Doktor schlürfte mit größtem Behagen die Seeluft; er ging kräftigen Schrittes allen Windstößen entgegen, für einen Gelehrten auf ziemlich seemännischem Fuß.
»Das Meer ist doch etwas Herrliches«, sagte er zu Meister Johnson, als er nach dem Frühstück wieder auf das Verdeck sich begab. »Ich mache mich etwas spät mit demselben vertraut, aber ich werde mich bald darein finden.«
»Sie haben recht, Herr Clawbonny; ich gäbe alle Kontinente der Welt für ein Stückchen Ozean. Man behauptet, die Seeleute würden bald ihr Geschäft müde; nun bin ich schon vierzig Jahre Seefahrer, und dies Leben gefällt mir noch so gut wie am ersten Tag.«
»Es ist doch eine wahre Lust, ein gutes Schiff unter den Füßen zu haben, und irre ich nicht, so hält sich der Forward trefflich.«
»Sie urteilen richtig, Doktor«, erwiderte Shandon, der zu den beiden hinzutrat, »’s ist ein trefflich Fahrzeug, und ich sage offen, noch nie ist ein für die Fahrt ins Eismeer bestimmtes Schiff besser versehen und bemannt gewesen. Das erinnert mich, wie vor dreißig Jahren der Kapitän James Ross, 2als er die nordwestliche Durchfahrt suchte …«
»Er fuhr auf der Victoria«, sagte lebhaft der Doktor, »einer Brigg von etwa gleichem Tonnengehalt wie die unsrige, und ebenfalls mit einer Dampfmaschine.«
»Wie? Das wissen Sie?«
»Urteilen Sie selbst«, fuhr der Doktor fort, »damals waren die Maschinen noch in ihrer Kindheit, und die der Victoria verursachte derselben mehr wie eine nachteilige Verzögerung: Nachdem der Kapitän Ross sie Stück für Stück vergeblich repariert hatte, ließ er sie zuletzt auseinandernehmen und gab sie bei seinem ersten Winteraufenthalt auf.«
»Teufel!« rief Shandon, »Sie wissen es genau, sehe ich!«
»Was meinen Sie?« fuhr der Doktor fort. »Das hat man vom Lesen. Ich habe die Werke von Parry, Ross, Franklin, die Berichte von Mac Clure, Kennedy, Kane, Mac Clintock gelesen, und es ist dabei etwas an mir hängengeblieben. Ich sage weiter, dass dieser nämliche Mac Clintock an Bord des Fox, einer Schraubenbrigg, wie die unsrige, leichter und direkter zum Ziel gelangte, als alle seine Vorgänger.«
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