»Du sagst, eine Schwester wohnt mit im Haus. Vielleicht ist sie nicht gemeldet?«
Wagners Stimme knisterte wie der Frost. Dicte nickte.
»Und du meinst, die Schwester ist gegen Mitternacht zu Hause gewesen und hat dem Hund zu fressen gegeben. Wo ist sie dann jetzt?«
Er ließ die Frage naiv und belanglos klingen. Aber sie biss sich daran fest. Sie erinnerte sich, wie das leere, auf den Kopf gestellte Haus auf sie gewirkt hatte ... die Angst des Hundes ... die systematische Zerstörung und das dahinterliegende Gefühl, dass hier etwas sehr Privates angetastet worden war ... die zertrampelten Familienfotos ...
»Ich kenne sie nicht, aber man könnte sich so einiges vorstellen. Jedenfalls solltet ihr wissen, dass sie dort wohnt. Mit ihrem Hund.«
»Und warum wohnt sie dort?«
Sie hustete. Die rauchige Luft kratzte in Nase und Hals. Noch immer stieg aus dem abgebrannten Gebäude Rauch auf.
»Es gehen ein paar Gerüchte um. Über ihre Vergangenheit, meine ich. Dass sie zu ihrer Schwester gezogen ist, um über ein schreckliches Erlebnis hinwegzukommen.«
Er runzelte die Brauen, und seine Stimme troff vor Sarkasmus:
»Über einen psychopathischen, gewalttätigen Mann mit einer pyromanischen Veranlagung vielleicht?«
Sie wurde rot.
»Getratsche, demnach«, stellte Wagner fest.
Sie fuhr unverdrossen fort, während die Stiefel im Gras quatschten, das die Löschschläuche der Feuerwehrleute in Eismatsch verwandelt hatten. Er wusste genauso gut wie sie, dass man auf Getratsche hören musste. Dass es mit zu dem Gesamtbild gehörte, sowohl in der Journalistik wie bei der Polizeiarbeit. Manchmal repräsentierte das Getratsche die Wahrheit, auch wenn sie das nicht zugeben mochten.
»Irgendetwas mit einem Mann jedenfalls«, sagte sie und wäre beinahe ausgerutscht, sodass sie nach seinem Arm greifen musste. Er wartete geduldig, bis sie wieder fest auf den Füßen stand. »Es ging um Gewalt. Die Details hängen davon ab, wer mir was erzählt, wenn ich einen Gang mit dem Hund mache. Aber die Frau hat eine Geschichte, daran besteht kein Zweifel.«
Sie blieb stehen. Versuchte, die Stimme neutral zu halten, und dachte an den vergangenen Abend. Wann hatte sie die Schwester zuletzt gesehen?
»Ich habe nur so ein dummes Gefühl.«
Sie wollte gerade auf dem Absatz kehrtmachen, als ein Feuerwehrmann etwas aus der rauchenden Ruine rief.
»Ein Überlebender«, kam es trocken von seinem Kollegen, der etwas aus einer kleinen Tüte zog.
Als sie näher kamen, sahen sie, dass es ein kleiner gelber Bär war. Vorn auf seiner blauen Strickjacke stand in weißen Buchstaben der Name Simon.
Wagner lächelte. Eine gewisse Schläue kroch in seine Stimme.
»Du sagst, du willst etwas über die Møllevang-Schule hören. Eine Exklusivstory, nehme ich an.«
Sie zuckte mit den Schultern. Das war doch nicht so schwer verständlich. Sie musste ihrer Arbeit nachgehen, und wie alle anderen Redakteure liebte es auch Kaiser, wenn sie etwas hatten, was die anderen nicht hatten.
»Ich schlage vor, du rufst Jan Hansen im Präsidium an und erzählst ihm, dass sie Simon gefunden haben. Er kann dir die Story erzählen«, sagte Wagner und drehte ihr den Rücken zu.
Der erste Gedanke galt ihrem Vater.
Ob er die Nachricht verkraften konnte. Ob er Zuflucht in den Ecken des Gemüts und des Vergessens suchen würde, wie er es nach dem Tod ihrer Mutter für kurze Zeit getan hatte.
Karen dachte wieder daran, als sie Timbo hinausscheuchte und mühselig die zertrümmerte Küche aufzuräumen begann. Sie hatte nicht einen Augenblick gezweifelt, dass er es heute erfahren sollte. Sonst würde es ihm über Umwege zu Ohren kommen, oder er würde es in der Zeitung lesen. Aber wie? Wie sollte sie ihm erzählen, dass sein Lebenswerk abgebrannt und sein Elternhaus dem Vandalismus zum Opfer gefallen war? Ihr Elternhaus, was das anging, aber daran dachte sie nicht weiter. Sie war es gewohnt, zuerst an ihn zu denken. Und an Inger.
Während sie in dem unüberschaubaren Durcheinander der Küche stand, spürte sie wieder den stechenden Schmerz, als würde jemand eine Ahle in ihr Fleisch bohren. Sie schien mit der Sorge um Inger geboren worden zu sein. Als höre die Verantwortung für die kleine Schwester nie auf. Inger erinnerte sie an das Mobile mit den Glasvögeln, das über der Heizung gehangen hatte. Die warme Luft hatte die Vögel in konstanter, rastloser Bewegung gehalten, in einer Bewegung, die immer nur zum Ausgangspunkt zurückführte. Einer Suche nach dem Glück, der Liebe, dem Glauben. Offen und verwundbar, süß und verwirrt. Und verdammt gefährlich für sich selbst. So war ihre Schwester, und Karen fühlte, wie die Kälte sich bis in die Knochen ausbreitete. Was um alles in der Welt war mit Inger geschehen?
Die Polizei war gerade gegangen. Sie wollten sie zur Fahndung ausschreiben, schienen aber seltsam gleichgültig. Sie hatten gefragt, ob es nicht möglich sei, dass ihre Schwester woanders übernachtet habe. Ob sie einen Freund oder eine Freundin habe, die man anrufen könne.
Zumindest schienen sie Inger nicht der Brandstiftung zu verdächtigen. So dumm waren sie nun doch wieder nicht. Sie meinten, dass ein Jungenstreich ein böses Ende gefunden habe. Die Täter waren von der Rückseite in die Scheune eingedrungen. Sie hatten etwas Diesel über einen Heuhaufen geschüttet und das Ganze mit Petroleum abgebrannt. Vielleicht hatten sie noch eine Weile dagestanden und zugesehen. Vielleicht hatten sie nicht damit gerechnet, dass das Feuer sich bei dem Frost breit machen, vielleicht hatten sie geglaubt, dass der Schnee die Flammen bremsen würde.
Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
Sie hörte, dass die Tür geöffnet wurde und Søren sich im Windfang die Stiefel auszog. Seine schweren Schritte näherten sich der Küche, an deren einem Ende sie angefangen hatte, die zerbrochenen Tassen und Teller aufzufegen und sich einen Weg durch das Chaos zu bahnen.
»Was hat der Tierarzt gesagt?«
Kjeldsen war glücklicherweise sofort gekommen, als sie angerufen hatten. Er hatte auch geholfen, einen Stellplatz für die Pferde zu finden.
Søren blieb kurz in der Küchentür stehen. Einen Augenblick meinte sie, er schwanke leicht, aber das war bestimmt nur Einbildung, auch wenn er es schwer nahm, besonders das mit den Tieren. Was für eine Heimkunft nach den Ferien.
»Natürlich sind sie gestresst und unruhig, aber keins hat ernsthafte Verbrennungen. Ein paar Wunden und versengte Schweife, das ist alles. Aber die anderen ...«
Seine Stimme brach. Er holte tief Luft.
»Hier. Setz dich.«
Sie schob ihm einen Küchenstuhl hin. Er setzte sich schwerfällig und starrte in das Durcheinander und ins Nichts zugleich. Eine Tasse Kaffee, dachte sie. Ich mache eine Tasse Kaffee. Oder eine warme Suppe.
»Ich will mich nur eine Weile setzen«, murmelte er. »Es ist viel zu tun. Auch hier drinnen.«
Sie wandte ihm den Rücken zu, auch wenn es ihr widerstrebte, ihn nicht ansehen zu können. Aber er war ein erwachsener Mann und musste diesen Schlag verkraften, genau wie er die anderen verkraftet hatte. Sie wusste auch, dass er das würde.
»Und gerade jetzt«, sagte sie, ihm den Rücken zugewandt. »Zu Lichtmess.«
»Hmm?«
Sie drehte sich um. Natürlich dachte er nicht an so etwas. Sie war diejenige, die die Religion brauchte und woanders Trost suchen konnte als hier. Er hatte seinen Boden und seine Tiere.
»Lichtmess«, wiederholte sie. »Die Messe des Lichts. Am zweiten Februar wird gefeiert, dass wir die Mitte des Winters erreicht haben, und die Kerzen, die im Kirchenjahr gebraucht werden, werden geweiht.«
Er sah sie verständnislos an, und ohne weiter darüber nachgedacht zu haben, flossen die Worte des Psalms in ihrem Mund zu Tönen zusammen, die selbst er kennen musste.
Читать дальше