Kirsten Holst
Zu lebendig zum Sterben - Skandinavien-Krimi
Übersetzt Hanne Hammer
Saga
Zu lebendig zum Sterben - Skandinavien-Krimi Übersetzt Hanne Hammer Original Var det mord? Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1999, 2020 Kirsten Holst und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726569490
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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Ich stellte das Glas so hart auf dem Tisch ab, dass der Inhalt überschwappte und Flecken auf der ohnehin nicht allzu sauberen Tischdecke hinterließ.
»Das meinst du nicht ernst!«, rief ich, und als Henrik mir nur einen seiner trägen, nachsichtigen Blicke zuwarf, die ich nur allzu gut kannte, und langsam den Kopf drehte, um den Glanz der Sonne auf den leichten Wellen des Fjords zu betrachten, die Segelboote, die Möwen oder was er nun vorgab zu betrachten, wiederholte ich indigniert: »Das kannst du verdammt nochmal nicht ernst meinen! Ich glaub’s einfach nicht!«
Er drehte wieder den Kopf und sah mich an. »Warum nicht?«
»Ladendetektivin! Jetzt mal ehrlich, Mann!«
Es war mehr als zehn Jahre her, dass wir uns das letzte Mal gesehen hatten, wir waren beide unserer Wege gegangen, doch dann war er unerwartet zu Allies Beerdigung aufgetaucht. In der Kirche hatte ich ihn nicht gesehen. Ich hatte überhaupt niemanden gesehen. Ich hatte nur Augen für den mit Blumen geschmückten Sarg gehabt und das einzige Mal, das ich aufgeblickt hatte, war mein Blick auf eine Tafel gefallen, auf der in goldenen, verschnörkelten Buchstaben stand: Nicht mein , dein Wille geschehe.
Ich war so wütend geworden, dass ich nicht noch einmal aufgeblickt hatte. Wenn das dein Wille ist, dann brauche ich dich nicht!
Ich sah Henrik erst, als wir vor der Kirche standen, um die Trauergemeinde zu begrüßen. Er hielt sich etwas abseits, als wüsste er nicht, ob er kondolieren sollte oder nicht. Ich erkannte ihn sofort. Er hatte sich in den vergangenen Jahren kaum verändert. Als Zwanzigjähriger hatte er wie ein großer Junge ausgesehen, lang und schlaksig, mit dunklem, zerzaustem Haar und blaugrauen neugierigen Augen hinter der Brille. Jetzt war er etwas kräftiger geworden, was ihm gut stand; das sonnengebräunte Gesicht hatte mehr Charakter bekommen, das Haar war gut geschnitten und die Brille durch Kontaktlinsen ersetzt.
War er doch noch eitel geworden oder war das Marias Werk? Ich wusste, dass er und Maria vor vier Jahren geheiratet hatten, und dachte ein wenig schadenfroh, dass er doch noch seinen Meister gefunden hatte. Ich kannte Maria, wir waren vor langer Zeit alle drei zusammen aufs Gymnasium gegangen.
Aber es war nett von ihm, zu der Beerdigung zu kommen, und ich war so erleichtert, zwischen all den fremden Gesichtern ein bekanntes zu sehen, dass ich ihn unwillkürlich anlächelte, und im nächsten Augenblick stand er neben mir.
Er gab mir die Hand und sprach mir sehr formell sein Beileid aus, aber im nächsten Moment legte er den Arm um mich und umarmte mich freundschaftlich, sodass ich beinahe wieder in Tränen ausbrach.
Wir standen einen Augenblick schweigend da.
»Wann geht’s wieder nach Hause«, fragte er schließlich. »Nach Philadelphia, nicht?«
Ich nickte. »Ja, das heißt, Philadelphia gehört der Vergangenheit an. Ich denke, ich werde nicht zurückgehen.«
»Heißt das, dass du ...?«
»Das heißt, dass ich nach Hause zurückgekommen bin. Vielleicht. Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden.«
»Wirst du hier in der Stadt bleiben?«
»Jedenfalls vorläufig.«
Nach dem Leichenschmaus kam er zu mir und schlug mir vor, uns an einem der nächsten Tage zu treffen.
»Nicht um alte Erinnerungen aufzufrischen«, sagte er, als ich zögerte. »Ich möchte dir einen Vorschlag machen.«
Natürlich machte mich das neugierig. Vielleicht hätte ich schon da an den Spruch denken sollen: Curiosity killed the cat to say nothing of Bluebeard’s wives!
Wir verabredeten uns für heute, eine Woche nach der Beerdigung. Ich hatte vor dem Haus, in dem ich wohne, auf ihn gewartet und wir waren zu einem der kleinen Restaurants am Vestre Bådhavn hinausgefahren, wo wir uns an einem Tisch auf der Terrasse niedergelassen hatten.
Er war um seinen Vorschlag herumgeschlichen wie die Katze um den heißen Brei, während wir hier an einem der ersten warmen Sommertage bei unserem Bier saßen – einem kleinen und einem großen –, und ich wurde immer gespannter, was er mir vorschlagen wollte. Ich wusste, dass es um irgendeinen Job ging, und jetzt war die Spannung gelöst.
Ladendetektivin, Gott steh mir bei!
Ich weiß nicht, was ich mir vorgestellt hatte. Alles andere, nur das nicht. Der Typ musste verrückt sein!
»Was ist daran nicht in Ordnung?«, fragte er.
»Ich dachte, du meintest einen richtigen Job.«
»Zum einen hast du mich missverstanden und zum anderen ist Ladendetektivin ein richtiger Job. Hast du überhaupt eine Ahnung, worum es dabei geht?«
»Ja, natürlich habe ich das. Ich habe einmal eine Ladendetektivin bei der Arbeit erlebt.«
»Wann?«
»Vor einer Ewigkeit. Als ich 13 oder 14 war. Es gab eine Zeit, da war es in meiner Klasse ein Sport zu klauen. Wir mussten alle etwas klauen, um mit zur schlechten Gesellschaft zu gehören. Wer wollte das nicht?«
»Du?«
»Natürlich wollte ich. Unbedingt. Ich hatte keinen Bedarf, mich noch mehr von den anderen zu unterscheiden, als ich das ohnehin bereits tat. Ich war nur zu feige. Nach der Schule fielen wir wie ein Schwarm Heuschrecken über K & L her, du weißt schon, und klauten, was das Zeug hielt. Meistens Kleinigkeiten, die wir leicht in die Tasche stecken konnten.«
»Du auch?«
»Nee, aber bestimmt nicht aus Tugendhaftigkeit, sondern aus purer, schierer Feigheit. Großmutter hätte mich umgebracht, wenn ich geschnappt worden wäre, und ich war sicher, dass ich das würde. Meine Freundin Gladys und ich schworen uns immer wieder, endlich den Mut aufzubringen, aber wir bekamen jedes Mal kalte Füße.«
»Hieß sie wirklich so?«
»Gladys? Ja.« Ich lachte kurz. »Großmutter sagte immer: ›Musst du mit diesem Mädchen befreundet sein? Sie sieht aus, als hätte sie Polypen, sie drückt sich furchtbar aus und dann auch noch der Name!‹« Ich machte Großmutters Art zu sprechen nach und Henrik lachte.
»Na gut, aber an jenem Tag sollte es passieren und schließlich klauten wir jede eine Serviette aus indischer Baumwolle, ein Riesencoup, was? Ich steckte meine in die Jackentasche und hatte das Gefühl, von allen angestarrt zu werden, während wir die Rolltreppe hinunterfuhren und zum Ausgang gingen. Und da stand sie! Die Ladendetektivin. Sie war mindestens vierzig, fünfzig Jahre alt, groß wie ein Haus und sah in ihrem Wintermantel, den vernünftigen braunen Schuhen und der Einkaufstasche in der einen Hand wie eine deutsche Hausfrau aus. Reine Tarnung; sicher war sie in ihrer Freizeit Karatekönigin oder so etwas, denn mit der anderen Hand hielt sie mit eisernem Griff einen unserer Klassenkameraden fest, Pickel-Aksel, der vergebens versuchte, sich zu befreien.«
»Pickel-Aksel?«, fragte Henrik interessiert.
»So wurde er genannt, weil sein Gesicht voller Pickel war. Und Aksel hieß er nun einmal. Er wand und drehte sich und war so verlegen, dass seine Pickel leuchteten wie die roten Lampen im Tivoli.«
Henrik sah mich skeptisch an. »Jetzt übertreibst du aber.«
»Überhaupt nicht. Wir hatten keinerlei Zweifel, dass er auf frischer Tat ertappt worden war. Pickel-Aksel war der Dieb in der Klasse und er war ziemlich dreist. Er begnügte sich nicht mit indischen Servietten, das kannst du mir glauben. Er klaute Transistorradios, Tonbandgeräte, Uhren und Füllfederhalter. Teure Sachen!
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