»Sie kommen. Es sind erst fünf Minuten vergangen.«
Es kam ihr wie Stunden vor. Wie in Zeitlupe.
Bo nickte zum Wohnhaus hinüber.
»Soll ich?«
Sie schüttelte den Kopf, und sie gingen zusammen, Hand in Hand wie zwei Kinder.
Schon als sie die halb offene Tür sah, wusste sie, dass etwas nicht stimmte.
Sie stieß sie auf. Das Haus kam ihr leer und seltsam unbewohnt vor.
Und dann traf sie der Anblick. Irgendetwas schien hier explodiert zu sein, doch ohne zu brennen. Alles war verwüstet. Regale waren umgeworfen und Stuhlbeine zerbrochen. Tische wie Spielzeugmöbel umgekippt, und all das, was man in einem Leben ansammelt, lag auf dem Boden verstreut: Porzellanfiguren, Vasen, Fotorahmen, Aschenbecher, Nippes.
Draußen näherten sich Sirenen. Kurz darauf knirschten die Reifen der Feuerwehrautos in der Einfahrt. Sie hörte noch ein anderes Geräusch, ein zaghaftes Winseln.
»Timbo. Timbooo.«
Sanft rief sie nach dem kleinen weißen Hund der Schwester, den Svendsen immer anbellte und Rose als tibetanischen Teppichpisser bezeichnete. In Wirklichkeit war es ein Yorkshire-Terrier, aber die Beschreibung war treffend.
Er lag unter dem Bett im Schlafzimmer. Sie sah die Schnauze, die Witterung aufnahm, ob sie Freund oder Feind war. Sie nahm ihre Hundestimme an.
»Komm, mein Kleiner. Ich tue dir nichts.«
Sie holte in der Küche ein Leckerchen und lockte ihn.
»Hmm. Getrockneter Fisch. Timbo. Hmm.«
Sie lockte und lockte ihn, während die Sekunden verstrichen. Und endlich kam er, direkt in ihren Arm, wie ein kleines, zitterndes Gespenst. Aber den Fisch wollte er nicht.
»Wo ist dein Frauchen? Wo ist sie?«
Sie murmelte es rhythmisch und wiederholte die Worte, während sie das verfilzte Fell streichelte. Seltsame Laute bahnten sich durch die Kehle des Tiers ihren Weg, und der kleine Körper spannte sich an. Timbo sah sie mit seinen schokoladenbraunen Augen an, die sich unter den Zotteln verdrehten, und erbrach sich auf ihren Mantel.
Die Redaktion in der Frederiksgade sah ganz wie immer aus. Die vollen Alu-Aschenbecher standen strategisch platziert auf dem Sofatisch; eine Tüte mit Brötchen war aufgerissen wie nach einem unblutigen Kaiserschnitt, und die Thermoskanne zischte, weil irgendjemand sie nicht richtig zugemacht hatte. Mäntel und Jacken lagen überall, nur nicht über dem stummen Diener in der Ecke, und Zeitungen bedeckten wie aus großer Höhe abgeworfene Flugblätter Tische und Boden.
Vier Leute waren anwesend. Ein als freier Mitarbeiter arbeitender Fotograf rumorte in der Dunkelkammer, und drei Journalisten richteten die Augen auf sie, als sie Viertel nach zehn mitten in eine Redaktionsbesprechung platzte.
»Hast du schon davon gehört?«
Cecilie, die Sportjournalistin, warf die Frage wie einen Tennisball quer durch den Raum, noch bevor Dicte den Mantel ausgezogen hatte.
»Wovon?«
Von dem Brand? Wussten sie es schon? Es waren kaum sechs Stunden vergangen, und sie spürte den mangelnden Schlaf und ihre kenternde Liebe wie einen Druck im ganzen Kopf. Bo war direkt zu seiner Exfrau gefahren, um Probleme zu lösen. Er hatte wie das reinste Lagerfeuer gerochen.
»Von den Kürzungen«, referierte Cecilie. »Jeder vierte redaktionelle Mitarbeiter wird gefeuert.«
Dicte fragte sich kurz, wie es wohl sein mochte, gefeuert zu werden. Das sichere Standbein zu verlieren.
»Und warum?«
Sie hatten doch gerade zwei Neue eingestellt, die für Kriminalfälle und Wirtschaft zuständig sein sollten. Außerdem war die Redaktion in Århus zur Ausbildungsstätte für Praktikanten erklärt worden. Sie selbst hatte man in den so genannten Nachrichtenbereich beordert. Sehr zu ihrem Missfallen, weil das bedeutete, dass sie jetzt zu Kaisers Leibeigenen gehörte, obwohl ihr der Abstand zu dem Redakteur in Kopenhagen nicht groß genug sein konnte.
»Der Jahresabschluss«, murmelte Davidsen, der nicht mehr so großmäulig wirkte wie in der vergangenen Woche, als er zum Leiter des Büros in Århus ernannt worden war.
»Ein enormes Defizit«, vertiefte er seine Aussage. »Zweihundertfünfzig Millionen.«
»Ja und?«, fragte sie. »Seit wann sollen Zeitungen Gewinne machen? Dann können sie auch gleich Tangas oder Tretroller produzieren.«
Von Holger Søborg, dem bald fertig ausgebildeten Praktikanten, war ein Kichern zu hören. Er sah wie ein amerikanischer Footballstar aus. Viereckiger Kiefer, dicker Hals und ein Minimum an Gehirnzellen, so hatte Davidsen es einmal ausgedrückt und zumindest dieses eine Mal ein Quäntchen Humor bewiesen.
»Tangas«, wiederholte Holger und warf Cecilie einen lustvollen Blick zu, mit der er ein Wochenendverhältnis hatte. Dieses Verhältnis war das am schlechtesten gehütete Geheimnis der Redaktion – neben der Tatsache, dass Cecilie seit der Mitarbeiterkonferenz in Kopenhagen, die sich über ein ganzes Wochenende hingezogen hatte, bei dem Chefredakteur Karl Juhl hoch im Kurs stand.
»Oder Kondome«, fügte Dicte böse hinzu.
Holger wurde rot. Cecilie funkelte sie wütend an.
»Bestimmt werden die zuletzt Eingestellten gefeuert.«
Dicte seufzte. Sie schmeckte Rauch wie schon seit Stunden, obwohl sie sich mindestens zehn Mal die Zähne geputzt hatte. Sie versuchte nachzurechnen. Wen betraf das? Rein technisch gesehen, war sie die Letzte, weil sie bei dem Umzug von Kopenhagen nach Århus eine neue Mitarbeiternummer bekommen hatte. Aber insgesamt gesehen, war Cecilie noch nicht so lange bei der Zeitung wie sie.
»Das kommt wohl darauf an, wie man rechnet«, sagte sie, warf die Randers Amtsavis vom Stuhl und setzte sich. Sie fand in dem Durcheinander auf dem Couchtisch eine saubere Tasse und griff nach der Thermoskanne. Davidsen schnupperte.
»Warst du auf einem Grillfest? Du riechst wie ein gebratenes Hähnchen.«
Sie dachte an die Pferde, an ihre Augen, in denen das Weiße nach außen gekehrt war, und an das Wiehern der Tiere in ihrer Todesangst. Sie wünschte, nicht darüber reden zu müssen, aber sie würden es ohnehin bald in den Meldungen der Nachrichtenagentur Ritzau lesen.
»Der Stall des Nachbarn ist heute Nacht abgebrannt.«
»Ach, du meine Güte.« Cecilie klang, was man ihr zugute halten musste, ehrlich schockiert. »Hoffentlich hat es nur Materialschaden gegeben?!«
Journalisten. Was konnten sie schön mit technischen Ausdrücken um sich werfen, dachte Dicte. Materialschaden. Personenschaden. Worte, hinter denen sich echte Katastrophen und ein Gefühlschaos verbargen.
»Zwei Pferde sind zu Schaden gekommen«, informierte sie, als läse sie die Nachrichten vor. »Vier konnten wir retten.«
»Schrecklich«, sagte Holger mit runden Stielaugen. »Warst du involviert?«
Ja und nein. Sie schloss einen kurzen Moment die Augen. Wann war man involviert? Sie trank von dem schwarzen Kaffee, der furchtbar schmeckte.
»Ich kenne die Nachbarn kaum. Sie sind in Skiferien.«
»Und Bo?«
Davidsen konnte es nicht lassen. Sie nickte. Sie wusste, wonach er in Wirklichkeit fragte. Nicht, ob Bo bei ihr gewesen war, sondern ob er die Tragödie fotografiert hatte.
»Er hat ein paar Fotos gemacht, als die Feuerwehr da war. Ich weiß nicht, ob sie brauchbar sind.«
Davidsen nickte und sagte, genau wie erwartet und wie ein Echo von Kaiser, dessen Geist offenbar immer über allem zu schweben schien: »Eine super Story.«
Eine Weile fühlte sie sich wie in einem Vakuum. Sie spürte die Übelkeit und den Rauchgeschmack und hörte die Stimmen der Kollegen, war aber trotzdem nicht Teil des Ganzen. Sie dachte an Rose, die sie anrufen und warnen musste, damit sie nicht aus dem Gymnasium nach Hause kam und angesichts des heruntergebrannten Stalls einen Schock bekam. Brandstiftung hatten die Feuerwehrleute schnell festgestellt. Das verwüstete Wohnhaus sprach ebenfalls eine deutliche Sprache. Rose würde schockiert sein. Rose, die bald kein Kind mehr war und sich immer wieder eine Übernachtung bei ihrem Freund erschlich.
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