1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Und dann war doch eines Tages alles auf sie eingestürmt. Hier, nach der Scheidung und nachdem das Kind auf dem Fluss gefunden worden war. All das, was sie gespürt hatte, was aber nie richtig zur Sprache gekommen war.
Die harte Erde knirschte unter ihren Stiefeln. Sie trat leicht nach einem Maulwurfshügel und tat sich weh.
Manchmal konnte einem bei dem Gedanken an die Vergangenheit ganz schwindelig werden. An die Familie, die sie hätte haben können und die jetzt nur irgendwo existierte, als gäbe es sie nicht. An den Halbbruder, den sie nicht kannte. An Großvater und Großmutter, die sie nie kennen gelernt hatte. So war es immer gewesen, so leer, und das war es wohl, was zu sagen ihr so schwer fiel. Dass sie etwas anderes brauchte als diese Leere. Und dass Jan und seine Familie das waren, wonach sie suchte. Ihre Eltern konnten das Sicherheitsdenken nennen, soviel sie wollten. Und was war eigentlich falsch daran? Jeder hatte schließlich das Recht, nach dem zu suchen, was für ihn wichtig war.
Sie sah das Reihenhaus in Lystrup vor sich. Familien mit kleinen Kindern. Gelber Backstein. Zwei Etagen und ganz viel Platz für ein kleines Privatleben und um Menschen im Wintergarten zu versammeln, wenn man das wollte. Sie verstand nicht, dass sie sich für diesen Traum schämen sollte und dass sie als junger Mensch nicht wählen durfte, um all das zu erreichen, was es zu erreichen galt. Dass sie sich durch eine Unmenge unbrauchbarer Freunde kämpfen und Sex mit Männern haben sollte, die sie gar nicht interessierten. Um erwachsen zu werden, wie es so schön hieß. Um richtig erwachsen zu werden, musste man sich offenbar erst einmal völlig bescheuert verhalten und eine Menge Dinge tun, zu denen man keine Lust hatte.
Sie musste lächeln. Sie hatte ihrer Mutter gegenüber noch nicht erwähnt, dass sie sich mit dem Gedanken trug, eine Ausbildung zur Wirtschaftsprüferin zu machen und in die Firma von Jans Vater einzusteigen, um ein richtiges Familienunternehmen daraus zu machen. Und dann das andere. Das, woran ihr am meisten lag. Das, woran sie kaum zu denken wagte, weil ihre Mutter einen sechsten Sinn hatte und es ahnen könnte. Nur hier, in Wind und Eiseskälte, konnte sie es laut aussprechen, falls es das war, was sie wollte. Dass sie Lust hatte, ein Kind zu bekommen. Ein Reihenhaus und ein Kind, um einmal die große Familie zu haben, die sie plante. Sie wusste, dass sie beide weinen und lachen würden. Rose seufzte, während sie nach den Hunden Ausschau hielt. Es war nicht leicht, erwachsen zu werden, wenn alle anderen es am liebsten sähen, dass man weiter ein Kind blieb wie sie selbst.
»Svendsen!«
Plötzlich wurde ihr klar, dass sie die Hunde nicht mehr sah. Dann hatten sie also doch das Loch gefunden. Hatten sich hindurchgezwängt und waren ins Moor gelaufen, wo Hunde natürlich angeleint sein mussten. Das Moor war ein Naturreservat, das wusste sie. Hin und wieder traf man auf Vogelbeobachter mit einem Fernglas um den Hals oder auf die orangen Lieferwagen des Wasserwerks. Ansonsten kamen nur Menschen hierher, die mit oder ohne Hund einen Spaziergang machten.
Sie beeilte sich, lief so schnell sie konnte, ohne auszurutschen und zu fallen. Die Wärme stieg ihr in Wangen und Hals. Im Moor trieb sich der Fuchs herum, und er hatte die Staupe. Mehrere Dorfhunde hatten sich bereits angesteckt.
»Svendsen! Timbo!«
Sie musste außen herum gehen. Den ganzen langen Weg hinten herum. Seitenstechen machte sich bemerkbar. Der Atem im Schal wurde nass und unangenehm, und sie spürte plötzlich, dass sie zitterte. Nicht äußerlich, aber innerlich. Ganz tief in der Nähe des Herzens, dachte sie verwundert.
Der Weg wand sich durch den Wald, wo Bäume im gefrorenen Moorwasser standen und mit ihren nackten, dunklen Ästen bedrohlich wirkten. Der Schlamm roch faulig, trotz des Frostes. Kleine Vögel wurden durch das Geräusch ihrer Schritte erschreckt, und ein Reiher flog unbeholfen auf und kämpfte sich durch das Gewirr der Äste.
Jetzt hörte sie das Geräusch. Ein Knurren tief in der Kehle. Svendsen. Bestimmt stand er aufrecht da, Schwanz und Nase in einer Linie. Aber noch konnte sie nichts sehen.
Sie ging weiter. Rief. Aber sie wusste, dass es sinnlos war, wenn die Hunde etwas gefunden hatten. Und dann hörte sie ein anderes Geräusch. Ein schwaches Winseln. Hohe Töne. Dann ein Heulen.
»Timbo! Timbooo!«
Jetzt konnte sie den kleinen weißen Hund sehen, wie er in dem tiefen Moor unter den großen Bäumen auf der anderen Seite des Wasserlaufs, wo sie so oft Rehe gesehen hatte, aufgeregt hin und her lief.
Sie konnte nicht erkennen, was da war, aber bestimmt hatten sie etwas gefunden. Wenn es nur keine Ziegenleiche war. Im Sommer weideten auf dem Feld neben dem Moor ökologisch gehaltene Ziegen, und hin und wieder hauten sie ab oder spießten sich gegenseitig mit den Hörnern auf. Jetzt, bei dem Frost, würde der Gestank glücklicherweise nicht so schlimm sein.
Sie fand eine Stelle, wo der Bach schmal war. Sie schob die Äste zur Seite, und einer schlug ihr ins Gesicht, dass es brannte. Dann spürte sie wieder das innere Zittern.
»Und? Was habt ihr da?«
Die Erde zwischen den Bäumen war weich. Schwankender Grund.
Svendsen machte mit den zurückgelegten Ohren und den reuig blickenden Augen einen schuldbewussten Eindruck. Aber der Körper war eifrig und ließ sich nicht bremsen. Er zitterte wie Espenlaub, während Timbo wie ein verlassener Welpe jaulte.
Und dann sah sie das Bündel. Einen Fuß. Eine Hand mit der Handfläche nach oben. Ein weinrotes, dünnes Kleid. Ach, du meine Güte, da lag ein Mensch, und ihr erster Gedanke war, dass es kalt sein musste, eiskalt. Sie blieb ganz still stehen, während auch die Gedanken zu Eis gefroren. Sie wartete, dass ihre Beine sie dorthin führten. Und dann merkte sie, dass kein Leben mehr in dem Bündel war. Dass dort vor ihren Füßen eine Tote lag. Und sie sah, wer sie war und dass die blaue Zunge direkt auf sie zeigte und die Augen weit aufgerissen waren. Und sie sah den Strick, der eng um den Hals der Frau lag. Und sie sah das Blut. Und mitten in all dem sah sie auch die Axt.
Es war wie ein Siegel, das aufgebrochen worden war. Als platzte all das, wovor man lieber die Augen verschloss, plötzlich heraus.
Das waren Dictes Gedanken, als sie im Moor die Autos mit Blaulicht sah und die Männer, die mit lauten Stimmen wie die Fliegen um ein totes Tier schwirrten. Es war inzwischen dunkel, und starke Scheinwerfer beleuchteten das Gebiet, das mit Flatterband abgesperrt war. Nackte Bäume standen im Eis, und das mannshohe Gras des Moores ragte wie umgedrehte Eiszapfen empor. Hier und da lag ein umgekippter Baum im Weg, die Äste im gefrorenen Schlamm, und von irgendwo in den Baumspitzen hörte man das hohle Heulen der Eule.
Sie verkroch sich in ihren Mantel und zog die Kapuze über den Kopf, weil von den das Moor umgebenden Feldern ein eisiger Wind wehte.
»Was für ein einladender Ort.«
Wagner stand neben ihr. Mit leicht hängenden Schultern. In dem Licht der Scheinwerfer sah er plötzlich zehn Jahre älter aus.
»Ein romantisches Abendessen zu zweit wäre vorzuziehen«, sagte sie. »Mit Kerzen auf dem Tisch und so.«
Sie wusste, dass sie mit ihrem Anruf bestimmt in seinen Freitagabend mit Ida Marie geplatzt war.
Wagner zuckte mit den Schultern.
»Die Arbeit geht vor. Und du hattest Recht.«
Er sagte es ein wenig resigniert. Als bedeutete es einen Sieg für sie und somit eine Niederlage für ihn. Aber das hatte nichts mit Kleinlichkeit zu tun, dachte sie. Eher mit Frust. Das wusste sie, weil sie selbst so empfand.
»Solltest du nicht zu Hause sein und deine Tochter trösten?«
Jetzt war es an ihr, mit den Schultern zu zucken.
»Rose geht es gut. Ihr Freund ist bei ihr.«
»Gut, wirklich? Braucht man heutzutage keine Krisenhilfe?«
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