»Bo?«
Er stand einen Moment regungslos da.
»Was hast du?«
Er seufzte. Griff nach einem Brief und las laut: »›Ich heiße Mie und bin vier Jahre. Pass gut auf meinen Schnuller auf.‹«
Er drehte sich zu ihr um.
»Freitag habe ich die Kinder aus der Schule geholt. Ich habe der Lehrerin gesagt, dass ihre Oma krank ist. Wir hatten einen halben Tag zusammen.«
Sie merkte, wie ihr Mund sich öffnete. Sie wollte so viel sagen; wollte fragen, ob er noch richtig klug sei und dass er das Recht, seine Kinder zu sehen, verlieren könne. Aber die Worte kamen nicht.
»Sie haben sich so gefreut«, fuhr er fort. »Wir sind zu McDonald’s gegangen.«
Sie starrte ihn an, seine Gestalt, die noch sehniger geworden war und wie ein gespannter Bogen wirkte. Das struppige blonde Haar und den Bart, der gepflegter war als das erste Mal, als sie ihm begegnet war. Aber trotzdem sah er wie jemand aus, den man auflesen und mit nach Hause nehmen, dem man eine warme Mahlzeit vorsetzen sollte. Die Rastlosigkeit haftete ihm wie eine zweite Haut an, spiegelte sich in seinem Blick, der immer nach Motiven suchte.
Sie versuchte, ruhig zu klingen.
»Was hat Eva dazu gesagt?«
Er sah sie scheel an und lächelte sogar, und sie fragte sich, ob er jegliche Urteilskraft verloren habe.
»Wir haben es ihr nicht erzählt.«
»Was soll das heißen?«
»Ich habe sie wieder zurück in die Schule gebracht, und sie hat sie dort abgeholt.«
»Und die Kinder?«
Er drehte sich weg und machte ein paar Schritte, aber sie hatte das Schuldgefühl gesehen, bevor sie ihm folgte.
»Wir haben verabredet, dass das unser Geheimnis bleibt.«
»Bo, verdammt.«
Sie griff nach seinem Arm und zwang ihn, sie anzusehen.
»Das ist doch nicht der richtige Weg. Das weißt du genau. Das macht doch alles nur noch schlimmer.«
Er blieb stehen und starrte sie an wie eine Fremde, und die Albträume der letzten Monate durchströmten ihren Körper wie ein kalter Strom. Seine Enttäuschung jedes Mal, wenn Eva die Kinder nicht zu ihm ließ, in der Regel mit dem Hinweis, dass ihnen das oder das fehle. Seine Frustration, die sich, wie Dicte schnell merkte, bald gegen sie richtete. Die langen Abende mit zu viel Wein. Die Nachtstunden im Bett, in denen sie sich endlich fanden, oder den Abstand. Die Verwünschung.
Die sah sie jetzt in seinen Augen, war aber trotzdem dankbar. Immerhin hatte er Eva verlassen.
»Es kann nicht schlimmer werden«, sagte er müde.
Um den Tag zu retten, fuhren sie zur Marina und aßen Fischfrikadellen im »Navigator« mit Aussicht über die verfroren aussehenden Segelschiffe mit ihren nackten Masten und die Århus-Bucht, die auf das Frühjahr wartete.
»Vielleicht solltest du eine Reise machen«, schlug sie vor. »Du hast so oft vom Mittleren Osten gesprochen.«
Er sah sie wachsam an.
»Du willst mich loswerden.«
Das war das Letzte, was sie wollte.
»Vielleicht brauchst du Ablenkung. Durch die Arbeit«, fügte sie hinzu.
Sie wollte ihn bestimmt nicht loswerden, aber er verstand nicht, dass sie ihm helfen wollte, indem sie ihm einen Schubs gab. Ihr Blick riss sich aus seinem los und wanderte an den Wänden entlang, in die Ecken und Kanten. Das Restaurant war maritim aufgemacht. An der gegenüberliegenden Wand hing eine Tafel mit Knoten. Mit Seilstücken wurde gezeigt, wie man die verschiedenen im Segelsport üblichen Schlingen und Knoten machte. Irgendetwas rührte sich in ihrem Bewusstsein, ganz kurz, dann war es wieder fort.
Bo seufzte und griff quer über den Tisch nach ihrer Hand. Ihr Handwerker. War er vielleicht nicht gekommen und hatte ihr durcheinander geratenes Leben in Ordnung gebracht, innerlich wie auch äußerlich? Schuldete sie ihm nicht mehr, als ihn wegzuschicken und die Augen vor seiner Verzweiflung zu verschließen?
»Versuch, mich zu verstehen.«
Sie nickte und dachte, dass zumindest dieser Blick jetzt verschwunden war. Der zerstreute, der geheimnistuerische.
»Ich versuche es.«
Indem sie die Worte aussprach, wusste sie es. Es war Karen Graugaards Blick, den sie bei Bo gesehen hatte. Ein Blick, der eine andere Wahrheit verbarg als die, die erzählt wurde.
Sie blickte auf und starrte die Tafel mit den Knoten an, während sie sich zu erinnern versuchte, wie die Schlinge um Ingers Hals ausgesehen hatte. Professionell, soweit sie das beurteilen konnte; mit dem zu einem altmodischen Henkersknoten gebundenen Strick. Lernte man so etwas in der Schule?
Niemand verlangte das von ihr. Es wäre ein Leichtes gewesen, jemanden zu bitten, für sie einzuspringen. Faktisch erwarteten sie das sogar, sowohl der Pfarrer als auch die Küsterin und der Kirchendiener und damit auch die Gemeinde.
Aber sie hatte die Hoffnung, dass es ihr gut tun und sie hier, auf ihrer Orgelbank, hoch über der Gemeinde, ja, sogar über dem Pfarrer auf seiner Kanzel, einen Halt finden würde. Sie hatte gehofft, eine Verbindung herstellen zu können, wenn sie sich nur genug Mühe gab. Die Musik half ihr gewöhnlich. Die Musik und die Worte.
Karens Finger fanden die Töne zu Max Regers Präludium in F-Dur. Die Füße in den Orgelschuhen glitten über die Pedale. Die Orgelpfeifen öffneten und schlossen sich, und die Töne strömten in die Skjoldhø-Kirche, ein Meisterwerk von einem modernen Gotteshaus, entworfen von den Architekten Friis und Moltke.
Die Kirche war gut besucht. Aber nicht so gut wie zu den Gottesdiensten. Die Leute mussten sich erst daran gewöhnen. Lichtmess war zu einem Fremdwort geworden, seit der alte Feiertag mit den anderen zu Buß- und Bettag zusammengelegt worden war. Aber der Pfarrer war von ihrem Vorschlag, das Licht zu feiern und die Gemeindemitglieder zu bitten, die sieben Lesungen vorzutragen, begeistert gewesen. Es würde schön aussehen, wenn jeder nach beendeter Lesung zum Altar hochstieg und eine weiße Kerze im Leuchter anzündete.
Sie hatten viel geübt. Die Rolle des Chors war schwierig. Vor allem der Kyriesatz. Vor dem Norwegenurlaub hatten vier Proben stattgefunden, und sie hatte um den Klang gekämpft, den hellen Klang, der den Winter beenden sollte.
Und jetzt saß sie hier, während die Küsterin Henny Dahl unten stand und das Eingangsgebet betete. Die Musik hatte sie nicht berührt. Sie hatte die Verbindung nicht herstellen können, konnte sich anscheinend nicht mehr mit Gott unterhalten. Und die einzigen Worte, die in ihrem Kopf rumorten, stammten aus einem Psalm, den sie hasste, wenn man so etwas von Psalmen sagen durfte. Oder überhaupt von irgendetwas. Denn genau darum hatte sie gekämpft – nicht zu hassen. Das war ihr Lebensziel und der direkte Grund, warum sie den Weg gewählt hatte, den sie gewählt hatte. Die Kirchenmusik.
Aber die Worte drangen doch in ihr Bewusstsein, und die Wut begann wie Haferbrei zu brodeln, der zu kochen anfängt.
Es waren die Worte Kingos, des Bischofs und Kirchenliederschreibers. Sie war kein Fan von Kingo und dem Barock, und vielleicht störten seine Worte sie deshalb. Er war so melodramatisch. Oft arbeitete er mit etwas, das sie als billige Tricks bezeichnen würde. Denn mehr waren sie nicht, diese Worte, als billige, rührselige Tricks. Trotzdem verfehlten sie ihre Wirkung nicht.
Ohne einen Einfluss darauf zu haben, formten ihre Lippen den ersten Vers. Das waren keine Worte, die an einem Tag wie dem heutigen gebraucht werden sollten, es waren Worte der Finsternis. Aber sie war ja auch nicht vergangen, die dunkle Nacht, obwohl sie später genau diesen Psalm singen würden. Die dunkle Nacht war hier, mitten in dieser Kirche und in ihrem Gemüt. Sie konnte ihr nicht entkommen, wie sehr sie sich auch bemühte.
»Dunkelheit die Erd umhüllet, und die Nacht ist nun vorhand. Dunkelheit die Sonne trübet, Jesus legen will in Band. Solche Nacht ward nie davor, zu ist nun das Himmelstor. Jesus, unsre Sonn und Ehren, wird der Nachte Schande lehren.«
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