Sekunden vergingen. Sie konnte nahezu hören, wie der Sekundenzeiger an seiner Uhr die Zeit in kleine Teile zerteilte. Dann richtete er endlich den Blick auf sie, und sie sah die Jahre darin ausgelöscht. Für ihn gab es nur das Hier und Jetzt. Alles andere war fort, und sie fragte sich, ob es jemals zurückkehren würde.
»Wer ist Inger?«, fragte er.
Nimmst du ihn, bitte?«
Ida Maries Stimme erreichte ihn aus dem Badezimmer. Wagner goss schnell Wasser auf die Bohnen, bevor er zu dem Kinderstuhl ging, um den weinenden Martin aufzunehmen. In einer Viertelsekunde konnte er noch denken, dass er Kaffee hätte Kaffee sein lassen sollen. Dann hätte er es vielleicht geschafft, bevor Martin in seiner Wut die kleine Faust in das Bananenmus knallte und anschließend mit einer beschmierten Hand den Milchkarton erwischte, den irgendjemand vergessen hatte, aus seiner Reichweite zu stellen. Teller, Milch und Bananenmus zerschmolzen zu einem Chaos, als sich alles über die Wachstischdecke ergoss und mit einem Klatsch auf dem Boden landete.
Hätte er doch nur mit dem Kaffee gewartet. Hätte Ida Marie ihn nur nicht alleine gelassen. Wäre er nur vor zehn Minuten zur Arbeit gegangen. Die Gedanken reihten sich sinnlos aneinander, während er sich an die Arbeit machte. Er hob den Milchkarton auf, trocknete unter großem Protest die Finger des Kleinen ab und griff nach der Küchenrolle. Panisch riss er große Stücke davon ab und legte sie auf die Tischdecke, wo sie schnell durchweicht waren und an die dünne Haut auf gekochter Milch erinnerten.
Unter dem Hemd lief ihm der Schweiß herunter. Vielleicht würde er sich nie ganz daran gewöhnen, dass Ida Marie sich so auf ihn verließ. Nina hatte das nie getan. Sie war immer da gewesen, jedenfalls soweit er sich erinnerte. Sie hatte ihn nie mit einem schreienden, hungrigen, morgenmuffeligen einjährigen Kind alleine gelassen. Und falls doch, hatte er es vergessen. Vielleicht lag es daran. Vielleicht war er einfach zu alt für so etwas.
Martin brach erneut in ein gewaltiges Geheul aus, und Wagner zerbrach sich den Kopf, wie er den Jungen am besten unterhalten konnte. Er hatte einfach keine Lust, ihn aufzunehmen. Es würde garantiert damit enden, dass er Rotz und Bananenmus auf dem sauberen Hemd hatte, und gegen das Geschrei würde es wahrscheinlich auch nicht helfen. Er schielte zu dem Kaffee hinüber. Hatte er fertig gezogen? Schaffte er es noch, eine Tasse zu trinken?
Die Gedanken konnten den Krach kaum durchdringen. Er bezwang den Drang, sich die Ohren zuzuhalten. Aber dann hörte er auf, wie er begonnen hatte. Ein kleiner Hicks und ein Hochziehen, und Martin streckte bettelnd die Arme nach ihm aus. Das Eis in Wagners Herz schmolz und verwandelte sich in etwas Warmes. Er ließ das Hemd Hemd sein und wiegte den Jungen in den Armen, während er zum Kaffee ging, um den Filterkolben hinunterzudrücken. Martin streckte eifrig seine kleine Hand aus, und Wagner wunderte sich wieder einmal, wie schnell man die Mühen vergaß.
»Willst du es versuchen?«
Er half der kleinen Hand und drückte mit seiner, die auf der des Jungen lag, den Filterkolben herunter. Martin gab einen Schrei von sich, den Wagner als Begeisterung auslegte.
»Aus dir wird einmal ein richtiger Kaffeekenner ...«
Er wollte noch mehr sagen, doch dann hielt er inne – »wie dein Vater« ging natürlich nicht. »Wie dein Stiefvater« klang so boshaft und altmodisch. Und an John konnte er sich einfach nicht gewöhnen. Dazu war er doch zu konservativ. Deshalb gab er es auf, griff nach einer Tasse und goss sich von der lieblichen schwarzen Flüssigkeit ein, während Martin, der plötzlich bester Laune war, auf seinem Arm drauflosplapperte.
»Das klappt ja ausgezeichnet. Ihr braucht mich gar nicht.«
Der Kuss auf seiner Wange war wie die Berührung eines Engelsflügels, und er nahm ihre verschiedenen Düfte in sich auf; den natürlichen Duft ihrer Haut und den der Seife, gemischt mit einem Spritzer Parfüm. Bestimmt irgendetwas mit Ingwer. Sie hatte ihm den Namen gesagt.
Ida Marie ließ Martin auf seinem Arm sitzen, während sie sich selbst einen Kaffee eingoss. Sie schmierte sich in Ruhe eine Scheibe Weißbrot mit einer dünnen Schicht Butter und sah aus wie das, was sie war: eine berufstätige Mutter, für die es selbstverständlich war, dass man die Aufgaben untereinander aufteilte. Er hatte nie protestiert. Er wusste, dass er sich daran gewöhnen musste, wenn er sie behalten wollte. Sicher, manchmal fühlte er sich leicht überfordert, aber es stand so viel auf dem Spiel. Der Gedanke an ein Leben ohne sie jagte ihm Angst ein. Deshalb übernahm er lieber seinen Part.
»Kommt Alexander in der Schule gut zurecht?«
Schließlich waren die Aufgaben gleich verteilt. Sie kümmerte sich auch um seinen und Ninas Jüngsten, nur eben nicht heute. Heute war eine Besprechung mit der Geschäftsleitung des Flughafens angesetzt, und sie hatte um der Sache willen eine Dreiviertelstunde im Badezimmer verbracht. Es war wichtig, hatte sie ihm erklärt, jetzt, wo das Reisebüro am Store Torv zu den Großkunden des Flughafens gehörte und bessere Konditionen aushandeln wollte.
Er nickte.
»Er hat sein Frühstücksbrot selbst geschmiert.«
Sie lächelte ihn an, und er sehnte sich nach ihrem Körper. Nach den weichen Lippen und der Hingabe, wenn sie alleine waren.
»Der arme Junge.«
Er lächelte sie über den Rand der Kaffeetasse an, wagte es, Martin zurück in den Stuhl zu setzen, und kassierte einen anerkennenden Blick von Ida Marie, als ihm das ohne Proteste gelang. Trotzdem dachte er, dass es vielleicht nicht ganz gelogen war, das mit dem armen Jungen. Vielleicht waren die Kinder wirklich die Armen in dieser Zeit, wo die Arbeit über alles ging. Was waren auf lange Sicht die Konsequenzen? Die Rebellion der erwachsenen Kinder, die das Gefühl hatten, in Institutionen gesteckt und einer Kindheit mit Mutter und Vater beraubt worden zu sein? Oder Schlimmeres?
Er dachte an seine eigene erwachsene Tochter, die er fast nie sah. An sein Enkelkind. Sie wohnten in Kopenhagen. Als Rebecca noch klein war, hatte er auch keine Zeit gehabt. Vielleicht hatte er sie nie richtig kennen gelernt.
Ida Marie stopfte schnell das Weißbrot in sich hinein und trank ihren Kaffee aus. Dann stand sie auf und streckte sich. Sie war businessgerecht gekleidet, wie er sah. Die blaue Uniform war mit einem Seidentuch und etwas hochhackigeren Schuhen als gewöhnlich aufgepeppt worden. Die Haare hatte sie zu einer Grace-Kelly-Frisur hochgesteckt – ihre langen Haare, die er so liebte und die ihr sonst immer bis zur Taille gingen und ihr ein mädchenhaftes und zerbrechliches Aussehen verliehen. Er kam mit sich überein, dass ihn dieses andere Bild beunruhigte. Ihm ein wenig zu erwachsen und damenhaft war.
»Was meinst du?«
Er nickte.
»Perfekt.«
Sie kam zu ihm hin, legte ihm die Arme um den Hals und zog ihn in das Vergissmeinnichtblau ihrer Augen. So standen sie eine Weile, während Martin auf wundersame Weise still wie ein Mäuschen war. Magneten zogen sie zueinander hin. Pressten sie fester zusammen. Ihre Lippen, die sich auf seinen öffneten. Das leichte innere Rieseln. Die Seligkeit.
»Lügner«, sagte sie zärtlich und machte sich frei.
»Der Lippenstift.«
»Ich weiß.«
Sie setzte sich an den Tisch und holte den Spiegel aus der Tasche. Kurz darauf sah sie zu ihm hoch, den Lippenstift neu aufgetragen.
»Du hast auch etwas abbekommen«, sagte sie dann, und er ging ins Bad und sah sich im Spiegel an. Ein hoffnungslos verliebter, etwas älterer Mann mit sehr roten Lippen.
»Clown«, flüsterte er, lächelte aber trotzdem.
Wieder in der Küche, hatten sie zwei Minuten Ruhe für eine weitere Tasse Kaffee. Ein Luxus, so kam es ihm vor.
»Was macht dein Fall? Ist Dicte immer noch involviert?«
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