»Greift zu!«
Ivar K runzelte die Brauen.
»Was zum Teufel soll das, Petersen? Bist du unter die Hehler gegangen?«
Arne Petersen sah entrüstet aus.
»Die sind an die Leute auf der Straße verteilt worden. Was hätten wir sonst damit machen sollen?«
Wagner lächelte.
»Und zu den Leuten gehören wir auch?«
Petersen machte erst ein dummes Gesicht. Doch dann ritt ihn der Teufel, und er öffnete eine Flasche, dass die Kohlensäure spritzte. Wagner dachte an Martin und den Milchkarton.
»Ich denke, wir sollten feiern, dass sich bei dem Dienst habenden Beamten ein paar Zeugen zu dem Schulbrand gemeldet haben.«
Wagner wartete geduldig, während Arne Petersen Cola in die Tassen goss, als wäre es Champagner.
»Ein Mädchen aus der Siebten«, sagte er über die Schulter, während er Ivar Ks Tasse bis zum Rand füllte. »Ich habe Namen und Telefonnummer. Sie hat am Abend vier Jungen auf dem Spielplatz der Schule stehen und rauchen sehen. Einen hat sie als früheren Schüler erkannt und den anderen als seinen Bruder, der in die Neunte geht. Prost!«
Wagner hob seine Tasse und merkte, wie sich deren Inhalt auf seinen Lippen in einen Veuve Clicquot bester Qualität verwandelte.
Ach, du meine Fresse, hat der sich ins Zeug gelegt.«
Bo war in strahlender Montagslaune. Vielleicht weil er sich etwas mehr Zeit mit den Kindern erschlichen hatte, wie immer das zugegangen war. Vielleicht hatte er sie in der Pause mit zu McDonald’s genommen. Vielleicht auch nur am Schulzaun gestanden und sie zu sich gerufen; einen Schneeball geworfen und ein Lächeln oder zwei zurückbekommen.
Sie dachte es, während sie neben ihm auf dem Sofa in der Dunkelkammer saß. Auf dem Sofa, das von allem etwas gesehen hatte, was Affären anging. Oder – man durfte schließlich hoffen – er war froh, weil sie sich geliebt hatten. Einander gefunden hatten, so hieß das doch. In dem ganzen Durcheinander aus Brand und Verwüstungen und Mord und Scheidung und Roses Drohung, zu Hause auszuziehen, hatten sie am Sonntagabend eine CD von Robbie Williams aufgelegt und getanzt. Getanzt und gespürt und geschnuppert und geschmeckt. Nach einigen Flaschen Rotwein, natürlich, aber in Krieg, Liebe und Meinungsverschiedenheiten waren alle Tricks erlaubt.
»Wer?«
Sie murmelte es, die Nase gegen seinen Hals gepresst, als sie eng beieinander saßen. Sie spürte seinen Puls, studierte die Haut. Konnte die feinen Poren ahnen und die grauen Narben der Augen sehen, hinter denen sich Tragödien verbargen, selbst erlebte ebenso wie andere, deren Zeuge er draußen in der Welt geworden war und die er mit seiner Nikon verewigt hatte. Die Lust auf ihn kam zurück, obwohl sie eigentlich nur in die Dunkelkammer gekommen war, um Kopien zu machen.
»Holger, der Held, natürlich.«
Er hatte die aufgeschlagene Zeitung auf den Knien und zeigte es ihr.
»Hier. Und hier. ›Allein erziehende Mutter taucht mit Kind unten«, las er mit ekelerfüllter Stimme vor. »Sie soll ihren Sohn gezwungen haben, Malstifte zu essen.«
»Münchhausen-by-proxy«, erklärte Dicte, die schon einmal über einen ähnlichen Fall geschrieben hatte. »Er ist verdammt produktiv gewesen.«
Bo blätterte in der Zeitung.
»Und hier, verdammt. Eine ganze Doppelseite über den Schulbrand. Jede Menge Wörter. Hast du nicht gesagt, dass er nicht schreiben kann?«
Dicte richtete sich auf. Holger Søborgs Name war plötzlich überall zu sehen. Er hatte am Wochenende Dienst gehabt, aber trotzdem. Sie überflog die Texte, und die Wut stieg wie Blasen in ihr auf.
»Das kann er auch nicht. In der Regel braucht er fünf Stunden für einen Zweizeiler.«
Sie selbst hatte keine Story in der heutigen Ausgabe. Ihr Artikel über den Mord am Freitagabend war in der Sonntagszeitung erschienen, und danach war Wochenende gewesen. Sie las, und plötzlich fiel ein Teilchen an seinen Platz. Kürzungen. Entlassungen. Jeder vierte Mitarbeiter musste gehen. Die Zeitung knisterte auf Bos Knien.
Polizei jagt junge Brandstifter mit Hochdruck lautete die Überschrift des Artikels. Auf der Titelseite fand sich ein Hinweis auf den Artikel, auch mit Holgers Namen, der wie mit Neonbuchstaben geschrieben vor ihren Augen blinkte. »Die Polizei von Århus hat viele Kräfte für die Jagd nach den Tätern bereitgestellt, die die Møllevang-Schule abgefackelt haben. Man geht davon aus, dass es sich um Jugendliche handelt«, hieß es in dem Vorspann; dann folgte der Text: »Die Polizei von Århus hat eine intensive Suche nach den Tätern eingeleitet, die nicht nur hinter Brand und Vandalismus in der Møllevang-Schule stehen, sondern vermutlich auch hinter den weitgehenden Verwüstungen in der Samsøgade-Schule und der privaten Elise-Smith-Schule. Die Polizei untersucht einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Vandalismus und dem Mord im Kasted-Moor vom Freitag.«
Weiter unten im Text konnte sie lesen, dass mindestens zwanzig Beamte auf den Fall angesetzt waren und der Schulratsvorsitzende erklärt hatte, dass die Schulen jetzt ihre Bemühungen koordinieren und ihr Geld für eine bestmögliche Sicherung der Gebäude einsetzen mussten. Und, der Himmel möge ihr beistehen, es gab noch einen weiteren Artikel in der Zeitung, wie die Jugendlichen heutzutage vernachlässigt und sich selbst und diversen Computerspielen überlassen blieben. Natürlich unter Bezug auf irgendeinen Psychologen, der als Experte zitiert wurde.
»Hör auf.«
Sie hörte selbst ihre Panik darüber, dass ein anderer sich in ihr Arbeitsfeld eingeklinkt hatte, ungeachtet ob dieser andere nur ein Praktikant war oder nicht. Dann spürte sie eine leichte Beschämung, weil sie im Lauf der Zeit selbst so viele Zusammenstöße erlebt und für eine größere Flexibilität plädiert hatte sowie dafür, dass die Zeitung an erster und die Primadonna-Allüren der Reporter erst an zweiter Stelle kamen. Aber trotzdem. Das hier war etwas anderes.
»Wer zum Teufel glaubt er, dass er ist?«
»Vielleicht ist er auf den Cavling-Preis aus«, meinte Bo.
Sie las die Artikel noch einmal. Irgendetwas war falsch, aber sie konnte nicht sagen, was.
»Die Kürzungen!«, schlussfolgerte sie schließlich.
Bo glich einem Fragezeichen. Als freier Mitarbeiter hatten sie ihn genau da, wo sie ihn haben wollten. Da, wo sie weder Rente noch Krankengeld zahlen mussten.
»Er will eine feste Anstellung, wenn er mit der Schule fertig ist«, erklärte sie Bo, der auf alles, was fest war, allergisch reagierte.
»Cecilie möchte, dass er eingestellt wird«, präzisierte sie ihre Aussage. »Dann weiß sie, wo sie ihn hat.«
»Armer Kerl«, murmelte Bo.
Er stand auf, gähnte und streckte sich, lang und dünn und struppig wie eine der Katzen, auf die man in Griechenland oder Spanien traf. Die Freelancer unter den Haustieren, konnte sie noch denken. Entweder ganz wild oder ganz zahm. Auch wenn man sie mit nach Dänemark nahm und ihr Ohr tätowieren ließ.
Er zog sie vom Sofa hoch, küsste erst ihre Nase und dann ihren Mund.
»Pass auf«, flüsterte er. »Er hat ein Messer im Ärmel, und das ist auf deinen Rücken gerichtet.«
Eine Frau stand an der Rezeption, als sie endlich die Kopien gemacht und weiter über das gemeckert hatte, was ihr wie ein Komplott vorkam. Natürlich konnte sie nichts beweisen, und außerdem war es nicht verboten zu schuften. Aber irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas war absolut falsch. Das Gefühl verschwand auch nicht, während sie die Frau einige Sekunden beobachtete, die dort stand und unsicher den Gang hinunterblickte. Eine junge Frau in altmodischen Klamotten. Ein Kopftuch um den Kopf wie eine Bauersfrau; ein unkleidsamer brauner Wollmantel, ein graubraunes Kostüm und vernünftige Schuhe.
»Benedicte?«
Sie stand ganz still. Sie erkannte sie und doch wieder nicht. Wellen von Kindheit schlugen über ihr zusammen. Sofie? Ihre Lippen wollten sich bewegen und den Namen aussprechen, aber die Stimme versagte.
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