Er hatte ein wenig erzählt. Er sah die Verletzlichkeit in ihrem Blick und wusste, dass sie von der Freundin enttäuscht war, die sich so lange nicht gemeldet hatte. Nach ihr fragte sie in Wirklichkeit, nicht nach dem Fall.
»An Spuren fehlt es uns nicht.«
Er seufzte innerlich. Zu viele Spuren waren auch nicht gut. Sie trübten das Wasser und erschwerten das Manövrieren.
»Dicte macht einen etwas gestressten Eindruck. Vielleicht solltest du sie einmal anrufen.«
Ida Marie trank ihren Kaffee aus und goss sich einen neuen ein. Ihr Kaffeeverbrauch war noch größer als seiner.
»Schon wieder? Ich denke, ich habe es oft genug versucht.«
Und das hatte sie. Jedes Mal hatte sie Entschuldigungen zu hören bekommen. Er schüttelte den Kopf. Was wusste er schon von so etwas. Er stand auf, nahm die Jacke von der Stuhllehne und gab ihr einen Abschiedskuss.
»Du kannst sie ja auch einfach mal besuchen«, schlug er vor und sah ihren Zweifel.
Die Arbeit war immer eine Freistatt gewesen, egal, wie sehr er seine Familie liebte.
Das war heute nicht anders. Das dachte er, als er durch die Glastür des wie ein roter Kasten wirkenden Präsidiums trat und von dem üblichen Wirrwarr aus Menschen, die dies oder das wollten, empfangen wurde. Heute hatte einer von ihnen einen Stadtplan von Århus dabei und fragte nach dem Weg zum Musikhuset, während ein junges Mädchen mit einem blauen Auge und einem Säugling auf dem Arm ihren Freund anzeigen wollte. Hinter der am weitesten entfernten Glaswand sah er die Leute der Notrufzentrale an ihren Telefonen sitzen und die Tafel, an der die Schlüssel der im Keller stehenden Einsatzwagen hingen. Am Wochenende war immer viel los. Bestimmt waren sowohl die Ausnüchterungszelle als auch ein Großteil der Einsatzwagen gebraucht worden. Die Hundestaffel war auch im Einsatz gewesen, das wusste er mit Bestimmtheit, da er selbst darum gebeten hatte, den Tatort im Moor gründlich abzusuchen. Nicht, dass etwas dabei herausgekommen wäre.
»Was haben wir?«
Er ließ die Frage über den zur Morgenbesprechung versammelten Kollegen schweben. Nur Arne Petersen fehlte. Er war irgendwo am Viborgvej aufgehalten worden, wo ein Lastzug umgekippt war und viele tausend Cola-Flaschen zur Freude der Autofahrer über die Straße gerollt waren.
»Die Fingerabdrücke sind nicht in unserer Datenbank.«
Jan Hansen machte den Anfang.
»Ärgerlich.«
Es war mehr als das. In den meisten Fällen stießen sie auf alte Bekannte, wenn ein Verbrechen begangen worden war. Bei den jungen Krawallmachern handelte es sich meistens um dieselben, ganz egal, ob sie nun aus dem Ausländermilieu oder der Rockerszene kamen. Die Personen waren dieselben, nur die Schauplätze änderten sich.
»Aber wir gehen noch immer davon aus, dass es sich bei den Tätern um junge Leute handelt, die in irgendeiner Verbindung zu der Schule stehen?«
Ivar K stellte die Frage, an der sie wohl alle das Wochenende über, an dem die technischen Untersuchungen weitergegangen waren, geknabbert hatten.
Wagner nickte, ließ den Kaffee aus der Kantine an sich vorbeigehen und erinnerte sich dankbar an die beiden morgendlichen Tassen mit Ida Marie. Stark gerösteter Kenya Blue Mountain. Er röstete die Bohnen im Ofen selbst und mahlte sie grob.
»Wir haben immerhin die Fußspuren.«
»Und Inger Graugaard?«, fragte der bald dreißig werdende Eriksen in seinem schweren westjütländischen Dialekt, den er nie ganz loswurde.
Das war der springende Punkt: Ob man die Vandalen mit dem Mord in Verbindung bringen konnte. Auf Anhieb erschien das logisch.
»Davon können wir im Moment ausgehen«, sagte Wagner. »Sie war Lehrerin an der Schule. Deutlicher kann es eigentlich nicht sein.«
Ivar K nickte, legte den Kopf in den Nacken und trank seinen Kaffee wie andere Wasser. Wagner schauderte.
»Ich hatte einmal einen Mathelehrer«, erklärte Ivar K. »Der reinste Sadist. Einmal hat er mich in einen Schrank eingesperrt, und nach der Schule wollte er, dass ich ihm einen blase. Er hat mir gedroht, mich durchfallen zu lassen.«
Hansen fuhr sich mit der Hand über den glatt rasierten Schädel.
»Irgendwie musst du aber bestanden haben. Sonst säßest du nicht hier.«
Ivar K funkelte ihn an. Die Augen blitzten.
»Wir waren ein paar Kameraden und haben ihm eine Lektion erteilt.«
Wagner unterbrach die beiden, bevor die verbale Schlacht sich weiterentwickelte. Er konnte sich Ivar K in so manchen Situationen vorstellen, nur nicht wie er jemandem eine Lektion erteilte.
»Was ist mit den Reifenspuren? Können wir damit etwas anfangen? Die technische Abteilung sagt, dass sie von einem der Autos des Wasserwerks stammen.«
Eriksen räusperte sich und faltete ein Stück Papier auseinander, das er aus der Hosentasche gezogen hatte.
»Ihr dürft nicht glauben, dass ich gewöhnlich mit Kollegen, die nicht zum Team gehören, Fälle diskutiere. Aber ich habe doch einen Vetter, der unten in der Einsatzleitstelle arbeitet, und Samstag hatten wir ein Familientreffen.«
Wagner lächelte innerlich. Eriksens Familie war so groß, dass man sie für Katholiken halten könnte, und mehrere arbeiteten bei der Polizei. Er hatte auch einen Vetter bei der Kripo in Ringkøbing.
»Ich habe ihm von der Reifenspur erzählt und dass sie wahrscheinlich von den einzigen Fahrzeugen stammt, die in dem Gebiet fahren dürfen, nämlich von denen der Stadtwerke, weil die Gemeinde ihr eigenes Wasser hat, das aus dem Moor kommt.«
Eriksen lehnte sich, beide Ellenbogen aufgestützt, über den Tisch. Ein sicheres Zeichen, dass jetzt etwas kam, das er für wichtig hielt.
»Jens hat mir erzählt, dass am Mittwoch ein Arbeiter des Wasserwerks sein Auto als gestohlen gemeldet hat. Er konnte sich daran erinnern, weil er den Mann selbst am Telefon hatte und er sehr aufgeregt war.«
Er sagte es mit einem Gewicht, als handle es sich um eine entscheidende Spur in einem Serienmordfall. Natürlich konnte da ein Zusammenhang bestehen. Vielleicht hatte der Mörder das Auto gestohlen und das Opfer damit ins Moor gebracht. Das würde den Fall nur noch weiter erschweren. Aber hatte der Täter wirklich alles so genau geplant? So etwas war ungewöhnlich hierzulande, dachte Wagner. Das gab es meistens nur im Film. Außerdem konnte es so viele andere Erklärungen geben, wie Inger Graugaard ins Moor gekommen war.
»Das müssen wir natürlich überprüfen«, sagte er trotzdem. »Wir werden es erfahren, sobald man das Auto gefunden hat. Wenn es nicht schon schwarz lackiert auf dem Weg nach Polen ist«, fügte er wie zu sich selbst hinzu.
Eriksen nickte bedeutungsvoll. Wagner fragte sich kurz, ob er auch ein Lied zu seinem eigenen Geburtstag schreiben würde. Eriksen schrieb in seiner Freizeit Lieder zu festlichen Anlässen.
»Ich kümmere mich darum.«
Weitere Aufgaben wurden verteilt und mögliche Motive von allen Seiten beleuchtet. Auch die Informationen von Karen Graugaard mussten überprüft werden. Es stand bereits fest, dass Anders Langballe nicht der Täter sein konnte. Als Anführer einer Sadomasosekte war er im Jahr 2000 wegen Mordes an einem Sektenmitglied verhaftet worden und saß noch immer im Staatsgefängnis von Horsens ein. Unmittelbar schien keine Verbindung zwischen diesem Mord und Inger Graugaards Tod zu bestehen, aber Ivar K wurde die Aufgabe zugeteilt, das näher zu untersuchen und ihn im Gefängnis zu verhören. Wagner dachte flüchtig an das Gespräch mit Karen Graugaard. Sie hatte ihm nichts von der Sekte erzählt. Gab es noch mehr, das sie der Polizei verschwiegen hatte? Er beschloss, sie bald noch einmal zu befragen. Aber vor allem mussten sie sich darauf konzentrieren, die Vandalen und damit hoffentlich auch den Mörder zu finden.
Die Besprechung dauerte bereits eine Dreiviertelstunde, als Arne Petersen endlich, den Arm voller Cola-Flaschen, auftauchte.
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