Ansehen verpflichtet nicht, folglich konnten Fuchsens ihr Vorhaben ohne jede Gefahr ausführen und ehe man sich noch so recht in Bellavista zum Aufwachen entschloss, wenigstens von seiten der Wirte, waren sie schon unterwegs in dem leuchtenden Morgen, immer entlang am See, wo in dieser Richtung die Vegetation vermöge der geschützten Lage ganz und gar südlich war und die Palmen im freien Lande unverpackt heiter dem Winter entgegensahen, der hier ebenso schnell und über Nacht kommt, wie der Frühling. Der schöne breite Weg brachte sie wirklich nach einer scharfen Biegung in wenig mehr wie zehn Minuten vor ein eisernes Gartentor mit dem Schilde „Pension Miramonte“ darauf, und durch dieses in einen schönen wohlgepflegten Garten mit Palmen und immer noch herrlich blühenden Blumenbeeten. Durch eine kleine Allee von alten Steineichen kamen sie dann an das Haus, ein sauberes Gebäude im italienischen Villenstil, vor dem ein „Portier“ in goldberänderter Mütze und grüner Schürze den Kiesplatz harkte. Eine Frage an dieses jung und kräftig aussehende Individuum brachte alsbald die Wirtin zur Stelle — eine noch jugendliche, wie aus dem Ei geschälte saubere Frau, die freundlichst zum Nähertreten aufforderte und dabei die Tür zu einem mit behaglicher Eleganz eingerichteten Salon öffnete, dessen hohe Glastüren wiederum auf eine von allen Seiten geschlossene sehr grosse Veranda herausführten, die wie das ganze Haus mit Zentralheizung erwärmt, eine Menge behaglicher Plätze bot, und von der man die herrlichste Aussicht über See und Berge genoss. Fuchsens stammelten nun ihre Bitte nach Unterkunft — sie seien drunten in der Pension Bellavista abgestiegen, aber die Luft dicht am See bekäme ihnen nicht usw. usw. Frau Schumann, die ganz wie eine Dame aussah, lachte herzlich.
„Ach,“ sagte sie, „wir haben viele Gäste, denen in Bellavista die ‚Luft nicht bekommen‘ ist. Dabei liegt das bei den sonst so braven Purzels nicht etwa an den Mitteln — das sind ganz vermögende Leute — sondern aus purem geschäftlichen Unverstand. Wenn die Leute nur einmal ein besseres Haus sehen wollten, dann müssten ihnen die Augen doch aufgehen, aber sie sehen nur ihre eigne Bude und halten sie für den Inbegriff des Komforts und der Eleganz. Und dann meinen sie eben, die Gäste sind ihretwegen da und müssten sich nach ihnen richten — ja lieber Himmel, bei uns kommen erst die Gäste und dann wir!“
„Ganz mein Prinzip!“ rief der Major enthusiastisch. „Thussi, wir werden uns wohl hier fühlen! Denk’ nur, hier wird nach unserem Prinzip gearbeitet, nicht nach dem Bachleitners!“
„Bachleitner? Herr Alex Bachleitner?“ fragte Frau Schumann. „O, den kennen wir sehr gut — das ist ein Geschäftsmann in unsrer Branche — grossartig. Von dem kann man lernen — mein Mann hat nämlich bei ihm gelernt. Vor einer Stunde noch hätte ich bedauern müssen, denn wir haben das Haus bis unters Dach voll, aber eben hat uns eine Partei abgeschrieben und Sie können nächsten Montag das grosse Doppelzimmer haben. Wenn Sie einen Moment warten wollen, will ich einmal sehen, ob man Ihnen die Räume zeigen kann, die noch bewohnt sind.“
Fuchsens erklärten, Zeit zu haben und Frau Schumann ging hinaus, die Tür nach dem behaglich geheizten und teppichbelegten Treppenflur offenlassend. Durch eine breite Glastür sah man von da in den grossen Speisesaal, in dem eine weissbeschürzte Kellnerin eben die Tafel deckte, die mit all dem Komfort ausgestattet war, den man daheim gewöhnt ist. Eine andere Glastür führte in einen mit „Bureau“ bezeichneten Raum. Während Fuchsens das zur Notiz nahmen, ertönte plötzlich aus der oberen Etage wildes Geschrei und Gepolter und zwei Jungen im Alter von zehn bis zwölf Jahren stürzten sich knuffend und puffend unter indianerartigem Gebrüll die Treppe herunter und stürmten ins Freie, die Haustür mit scharfem Knall hinter sich zuwerfend.
„Donnerwetter!“ sagte der Major, für den es kein grässlicheres Geräusch gab als zugeworfene Türen. „Das sind ja ein paar tolle Lümmel.“ Bei diesem aus tiefstem Herzen kommenden Ausrufe, trat eine alte Dame, die bisher auf der Veranda gesessen, in den Salon.
„O,“ sagte sie mit dem heiseren und doch scharfen Organ der alten Italienerinnen, „ist eine onta, was machen diese ragazzi für eine Lärm. Weiss man nicht, wer ist schlimmer, diese Godofredo oder diese Pablo. Ist ihre Mutter zu dick und zu zwack, ihnen zu verbieten. Aben ich immer die grösste Lust, ihnen zu geben eine tüchtige schiaffo, die südamerikanische monelli!“
„Sind Sie schon längere Zeit hier im Hause, gnädige Frau?“ fragte der Major, indem er sich beeilte, diese günstige Gelegenheit zu benutzen.
„O ja, schon seit zwei Monaten,“ erwiderte die freundliche alte Dame. „Bin ich ganz zufrieden bis auf die Lärm von diese ragazzi und wenn die cuocchina macht einen Zweinebraten. Kann nicht vertragen, die Zweinebraten, machen mir zwacke Beine. Nun, kann man nicht verlangen Vollkommenheiten in eine Fremdenpension. Ist noch nicht die s’limmste hier. Wollen Sie auch kommen ’er?“
Der Major erklärte, dass er die Absicht habe, und in diesem Moment erschien auch Frau Schumann wieder und lud zur Besichtigung des Zimmers ein. Dasselbe war geräumig und hübsch, ja elegant möbliert mit allem, was der moderne Mensch zu seinem Behagen braucht und hatte einen grossen, mit dicken Portieren abzuschliessenden Alkoven, in dem die Betten und Waschtische standen und den gleichfalls ein breites Fenster beleuchtete. Fuchsens erklärten sich sehr einverstanden mit diesem Gemache, das ihnen im Vergleich mit ihrem Zimmer in Bellavista fürstlich vorkam und es wurde ausgemacht, dass Attilio, der Portier, ihr Gepäck Montag in der Frühe holen sollte.
Hochbefriedigt verliessen Fuchsens nach erledigten Präliminarien die Villa, sprachen im Hinblick auf ihr abzuholendes Gepäck den immer noch fleissig harkenden Attilio an, der sich übrigens trotz seines italienischen Namens und dito Geburt des schönsten Schweizerdeutsches bediente. Während sie ihm sagten, was alles herüberzuschaffen sei, ging ein hühnenhaft grosser Herr mit glattrasiertem, klugem Gesicht und scharfen, durchdringenden Augen an ihnen vorüber, der kaum aus Gehörweite war, als auch Attilio im Theaterflüsterton vertraulich sagte: „Das ischt e Taubstummer — der schreibt alles auf, was andre sagen.“
„Merkwürdig aufgeweckte Physiognomie hat der Mann für einen Taubstummen,“ bemerkte Frau Fuchs, als sie weitergingen. „Wenn man’s von dem nicht besser wüsste, würde man sagen: der hört das Gras wachsen!“
„Dass so ein Mann auf Reisen gehen kann, ist wunderbar,“ meinte der Major und dann schwelgten die beiden in der Vorfreude ihres Umzuges in die Pension Miramonti, indem sie nur bedauerten, in Bellavista die nette Gesellschaft zurücklassen zu müssen.
„Jedenfalls, Thussi,“ sagte der Major mit Betonung, „jedenfalls ist es für uns sehr lehrreich, eine Pension gefunden zu haben, die nach Bachleitnerschen Grundsätzen geführt wird. Da werden wir ja gleich sehen, wie er es gemeint hat und wie er’s gemacht haben will. Besser konnten wir’s ja gar nicht treffen!“
Befriedigung in ihren braven Herzen langten sie vor der „Bellavista“ wieder an und stiessen in der Tür mit Herrn Purzel zusammen, der gerade ausging, da er seinem Freund Borso „dort an der Ecken“ etwas Wichtiges zu sagen hatte. Nun hatte der ungarische Rittmeister aber schon verraten, dass der gute Purzel allemal bepfiffen heimkehrte, wenn er dem Borso etwas zu sagen hätte, weil dieser würdige Freund in solchen Fällen seinen guten Asti spumanti nicht zu sparen pflegte, und darum riskierte es der Major auch, seinen Gastgeber aufzuhalten, um ihm mitzuteilen, dass er also Montag früh definitiv auszöge.
„Für welchen Zug soll ich an Wagerl zum Bahnhof bestellen?“ fragte Herr Purzel heiter lächelnd. Er lächelte immer sein Cherubslächeln, der Herr Purzel.
Читать дальше