Frau Thussi war es recht, und am Abend war das Telegramm schon da, dass ein schönes Zimmer zu zwei Betten für den und den Tag bereit sein würde, gez. Frau Purzel.
„Na denn, frisch auf zum fröhlichen Jagen nach Erfahrungen,“ sagte der Major vergnügt. „Ich brenne ordentlich darauf, dem ekligen Kerl, dem Bachleitner, beweisen zu können, dass er unrecht und ich recht hatte mit meiner Auffassung einer Familienpension!“
Frau Thussi aber sah ihren August bewundernd mit freundlichem Lächeln an, und nachdem das würdige Paar seine Angelegenheiten geordnet, reiste es ab, frohen Herzens und gläubigen Gemüts, denn es mussten ja alle Leute sein wie sie selbst!
Na adieu, Herr Major und Frau Thussi, viel Glück auf den Weg und übers Jahr sprechen wir uns wieder!
Pension Bellavista.
An einem strahlend schönen Nachmittage der ersten Dezembertage langte der Major Fuchs mit seiner Gattin am See von Brissago an. Alles war noch grün, nur der wilde Wein troff in roten Strömen von altem grauem Gemäuer herab, die Kastanien fingen an sich zu färben und späte Rosen blühten in allen Gärten inmitten ihrer weniger vornehmen Blumenschwestern. Aus noch saftigem Grün ragte die tiefdunkle hohe Zypresse empor, alte knorrige Olivenbäume stimmten mit ihrem graugrünen Laub die Farbenskala fein ab, und die mit dicken Knospen besetzten Kamelienbäume verhiessen einen reichen Blütenflor. Dazu die strahlende Sonne, der tiefblaue Himmel und der blaugrüne See — kurz, es war eine Pracht, von der harmlose nordische Gemüter in gläubigem Vertrauen erwarteten, dass sie den ganzen Winter so anhalten würde.
Die Fahrt über die Alpen war auch vom herrlichsten Wetter begleitet gewesen. Jenseits des Gotthardtunnels hatten Fuchsens Kälte und Nebel zurückgelassen und waren in Airolo vom schönsten blauen Himmel begrüsst worden; was Wunder also, wenn der Major selbst in strahlendster Laune nun in dem netten Fiaker neben seiner runden Thussi sass und mit ihr der Pension Bellavista entgegenfuhr, wo sie ja erwartet wurden und all das Behagen finden sollten, das der Major als Pensionsgeber seinen Gästen bereitet hatte.
Der Weg zu diesem verlockenden Ziel wurde erst recht schön, als der Wagen die Stadt verliess und die in die Felsen gesprengte Strasse nach dem gegenüberliegenden Seeufer entlang fuhr, hart an der schimmernden Wasserfläche entlang. Dann bog der Wagen in einen Seitenweg ab, der von weinumrankten Spalieren überspannt war, und hielt vor einer reizend gelegenen Villa in italienischem Stil, an deren Haustür ein kleines Schild mit der Aufschrift „Pension Bellavista“ den guten Fuchsens verriet, dass sie am Ziele seien. Sie entstiegen also ihrem Vehikel und zogen die Glocke, was aber keinen Effekt machte, denn es erschien keine Seele, auch dann nicht, als das Verfahren mehrmals wiederholt wurde. Der Major hiess den Kutscher also das Gepäck abladen und vor die Tür stellen, Frau Thussi blieb als Wächter daneben stehen und ihr Gatte ging auf Rekognoszierung aus, das heisst er öffnete die Haustür und betrat mit einem lauten „Hem!“ den architektonisch hübschen, aber nackten und nicht sonderlich ausgekehrten Hausflur, in dem eine dicke Rolle Teppich-Läuferstoffes anscheinend neu aber verstaubt in einer Ecke lehnte. Eine weitere Klingel war nicht zu sehen, irgend ein menschliches Wesen auch nicht, da der Major aber rechts hinter einer Tür Stimmen hörte, so klopfte er dort an. Das half insofern als der bildhübsche aber arg verraufte Kopf eines anscheinend dienenden Wesens in dem vorsichtig geöffneten Spalt erschien, um mit dem erschreckten Ausruf: „Ein Fremder, Signora!“ wieder zu verschwinden. Nach einer längeren Pause öffnete sich dann wieder die Tür und eine verblühte Frau mit verbundenem Gesicht und umhüllt von einer stark benutzten Küchenschürze erschien auf der Bildfläche.
„Fuchs, Major Fuchs,“ stellte sich der Major vor. „Habe ich vielleicht das Vergnügen, Frau Purzel —“
„Ja, ich bin Frau Purzel,“ nuschelte die Gute aus ihrer geschwollenen Backe heraus. „Sie wünschen?“
„Wir sind angemeldet und werden erwartet,“ erwiderte der Major, das erhaltene Telegramm zu seiner Legitimierung hervorziehend.
„Aha!“ machte die Herrin von Bellavista mit dämmerndem Verständnis. „Also Sie sind wirklich gekommen; ich hatte nicht gedacht, dass Sie wirklich kommen würden. Das Zimmer? Ja, das Zimmer ist noch besetzt, aber es wird morgen frei — ein sehr schönes Zimmer, Sonnenseite, nach dem See heraus!“
„Ja, wenn’s aber besetzt ist, was nutzt mir dann seine Schönheit,“ meinte der Major mit langem Gesicht. „Sie hatten mir doch bestimmt versprochen —“
„Ja, ja, aber ich dachte doch nicht, dass Sie wirklich kommen wollten,“ fiel Frau Purzel ein. „Sie werden sich sehr wohl bei uns fühlen. Die wundervolle Lage des Hauses — unsere Küche ist ganz vorzüglich — alles so bequem und sauber —“
„Herrlich ist das alles,“ fiel der Major ein, „aber wenn wir kein Zimmer haben —“
„Mama! Nummer Sieben!“ rief eine Stimme aus der Küche.
„Ja, wir haben da ein Zimmer bereit für zwei Damen, die heut’ kommen sollten,“ rief Frau Purzel strahlend. „Da sie aber noch nicht da sind, so werden sie heut’ wohl nicht mehr kommen — wenn Sie also das Zimmer einstweilen beziehen wollen, bis das Ihre morgen frei wird, dann können Sie es gerne haben.“
„Wenn die Damen aber nun doch noch kommen,“ warf der Major ein.
„Ach, woher sollten sie denn heut’ noch kommen!“ wehrte Frau Purzel ab. Der Major aber warf einen Blick vor die Haustür, wo seine bessere Hälfte, wie er zerrüttelt und zerschüttelt von der langen Eisenbahnfahrt, wartend auf dem Koffer sass — die Droschke war weggefahren, der Weg hinein bis zur Stadt und zum nächsten Hotel mindestens seine drei Kilometer lang — da schlug der brave Major also seine chevaleresken Gefühle und Begriffe in den Wind, tat seinem Gewissen, das sich lebhaft gegen den Gedanken sträubte, sich dem Kuckuck gleich, ein fremdes Nest anzueignen, Gewalt an und akzeptierte den Vorschlag der Frau Purzel. Nummer Sieben war nun zwar nicht etwa das Nest, das der Usurpator würde ausgesucht haben, aber es hatte vier Wände und eine Decke darüber, gerade das, was der müde Wanderer braucht. Es war ein langes, schmales Gemach, aufs dürftigste eingerichtet, finster und weil nach Norden gelegen, eisig kalt in dieser vorgerückten Jahreszeit. Dem letzteren Übelstand abzuhelfen, wurde in dem primitiven italienischen Kamin ein Feuer von feuchtem Reisig angemacht, und das Resultat davon war ein Rauch zum Ersticken. Nun mussten Fenster und Tür geöffnet werden, um durch Zugluft den Rauch herauszutreiben und der Major fand nicht, dass dies Verfahren die Temperatur erhöhte; Frau Purzel hingegen erklärte, dass nun alles in Ordnung sei, dass das Diner um sieben Uhr stattfände und dass sie jetzt in die Küche müsste, worauf sie befriedigt ihre neuen Gäste verliess.
Der Major hatte seinen Überzieher wieder angezogen und Frau Thussi ihren Wintermantel, und nun sass jedes auf einem der zwei vorhandenen Strohstühle frierend in dem düstern ungemütlichen Raume, stumm, resigniert, ein Bild des Jammers und Unbehagens. Nebenan mussten andere Gäste daheim sein, denn man hörte Personen sich bewegen und mit unglaublicher Volubilität in einer fremden Sprache reden, dann kam eine Pause und nach dieser eine sonderbare Produktion: eine hohe weibliche Stimme begann in einem einzigen Ton eine lange Rede herzusagen, dann fiel eine tiefe weibliche Stimme, auch auf einen einzigen Ton gestimmt, ein und redete weiter, dann kam wieder die hohe Stimme daran und so ging’s ohne Aufhören fort, bis Frau Thussi plötzlich aufsprang. „Du, August, das halt’ ich nicht aus, dabei schlaf’ ich selbst auf dem harten Stuhl hier ein,“ versicherte sie eindringlich. „Wie wär’s, wenn wir lieber in den Garten gingen — kälter wie hier kann’s draussen nicht sein!“
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