1921 war noch alles einfach. Neben Botschaften eher mystischer und dunkler Natur ging es ganz konkret um die Belange derer, die sich im Kreis versammelten. Den Kern bildeten Helena und Nikolai Roerich. Zeitweise dabei waren die Söhne Juri und Swetik, die beiden Lichtmanns, Ksenja Muromzew, eine direkte Cousine von Helena, zusammen mit ihrem Mann, der während der Kriegszeit für den russischen Rüstungseinkauf in den USA zuständig gewesen war, sowie weitere russische Emigranten wie der Bildhauer Gleb Derjuschinski. Allen gemeinsam war die Sorge um in Russland verbliebene Verwandte und die schwierige materielle Lage. Mit Ausnahme der Muromzews waren sie auch alle mehr oder minder am Schulprojekt der Roerichs beteiligt.
Meist war es Allal Ming, der bei den Séancen erschien, aber es kamen auch andere Geister zu Hilfe. So am 2. Februar, als den Roerichs aus dem Jenseits geraten wurde, die berühmten Komponisten Rachmaninow und Prokofjew, die es gleichfalls nach New York verschlagen hatte, sollten die Examen der Musikabteilung der geplanten Schule abhalten. Diese sicherlich werbewirksame Idee stammte von niemand anderem als dem verstorbenen russischen Komponisten Skrjabin, einem bekannten Theosophen. Zumindest zu Prokofjew nahmen die Roerichs Verbindung auf, denn am 1. August teilte Allal Ming mit, man solle sich vor Prokofjew hüten, er sei noch nicht bereit. Am 23. Oktober hieß es, Prokofjew solle mitgeteilt werden, man könne ihn aus allen Gefahren retten. Das scheint den Komponisten aber nicht beeindruckt zu haben, denn ein Jahr später, am 21. Juni 1922, wurde er in den Aufzeichnungen als »Widersacher« bezeichnet, den Allal Ming gerade in die Schranken weise. Ein allerletztes Mal schließlich fand der Name Prokofjew in einer Liste mit Feinden Allal Mings »als nicht ernst zunehmender Witzbold« Erwähnung.
Nicht besser endete die, wenn auch erheblich engere, Beziehung der Geister zu dem Bildhauer Gleb Derjuschinski. Hier die Eintragung vom 6. März, die einen guten Eindruck vom Detailreichtum der Aufzeichnungen vermittelt:
»Die gewöhnlichen drei Schläge von Allal Ming wurden dieses Mal von drei schwachen und sehr kurzen Schlägen begleitet. Auf die Frage, was diese zusätzlichen Schläge bedeuteten –
›Schurotschka‹ [die vor kurzem mit viereinhalb Jahren verstorbene Nichte von Derjuschinski] [...]
Auf die Frage, wo sich Allal Ming befindet, antwortet Schurotschka: ›Auf dem Sofa, in der Nähe von Schurotschka.‹ – Auf unsere Frage, ob Schurotschka eine Beschreibung von Allal Ming geben könnte, kam folgende Antwort: ›Langes Gesicht, lange Haare, hohe Gestalt, schwarze Haare, zweigeteilter Bart.‹ – ›Strenges oder gutes Gesicht?‹ – ›Streng.‹«
Die kleine Schurotschka sollte noch öfters erscheinen, doch dann aus dem Kreis verschwinden. Gemeinsam mit dem Bildhauer, der sich 1922 mit Prokofjew zusammen in der Liste mit Feinden Allal Mings wiederfand. Was war geschehen? Das »Tagebuch« gibt Anhaltspunkte.
Am 24. März teilte Schurotschka mit, der »Onkel« (i.e. Derjuschinski) solle ein besseres Verhältnis zu Allal Ming und Roerich haben, denn »Roerich der Neue (sic!) wird den Russen seine Macht deutlich zeigen.« Bei derselben Sitzung bekam Derjuschinski auch den Namen seines geistigen Führers aus dem Jenseits mitgeteilt, ein gewisser Fitschia Possudsch aus dem 10. Jahrhundert. Als Derjuschinski die impertinente Frage stellte, wodurch sich sein neuer Lehrer auszeichne, antwortete Schurotschka, »Teurer Onkel, beleidige Fitschia nicht«.
Ganz gewiss nicht gefallen haben wird Derjuschinski die Meinung Schurotschkas zu seinem Plan, amerikanischer Staatsbürger zu werden. Wie auch Helena Roerich, die ebenfalls dagegen war, riet Schurotschka dringend ab. Und schließlich meldete sich selbst der Vater Derjuschinskis aus dem Jenseits mit der Mahnung, die russische Sache nicht zu verraten. Doch das alles änderte nichts an der Tatsache, dass die russische Sache zwar schön und gut, Derjuschinski wie alle Staatenlosen aber in einer unangenehmen Lage war. Verständlich, dass er die Warnungen aus dem Jenseits in den Wind schlug und die Versuche, die amerikanische Staatsbürgerschaft zu erlangen, weiter betrieb.
Ein letztes Mal nahm Derjuschinski am Abend des 7. Mai an einer Sitzung teil. Diesmal wurde er kurz abgefertigt. Allal Ming gab bekannt, er könne nicht die ganze Zeit über Derjuschinskis Angelegenheiten sprechen, und auf die Bemerkung von Derjuschinski, die Worte aus dem Jenseits würden ihn nur beunruhigen, antwortete ihm Allal Ming, mit Ängstlichen werde er sich nicht abgeben.
Eine ähnliche Entwicklung nahm die Beziehung Allal Mings zu den Muromzews. Der ehemalige Rüstungsbeauftragte der Zarenregierung war nach der Revolution völlig mittellos, wie man aus den Anfragen an Allal Ming schließen kann. Aber die Ratschläge halfen nicht. Also beschloss das Ehepaar, auf die Vermittlung Helena Roerichs zu verzichten und einen direkten Draht in die Astralwelt aufzubauen. Allal Ming hatte dafür nur Hohn und Spott übrig. In der Eintragung vom 8. Juni heißt es, Muromzew müsse erst »zwanzig Jahre geistig arbeiten, bevor er einen geistigen Führer verdient hat«.
Ein Jahr später, am 26. Juni 1922, wurde aus dem Jenseits mitgeteilt, der »Abgrund ist gut genug für die Muromzews«, und am 24. September schließlich fanden sie sich mit Prokofjew und Derjuschinski in der Liste mit den Feinden Allal Mings wieder.
Die erste Phase von Helena Roerichs Karriere als Seherin und Medium hatte in einem Fiasko geendet. Derjuschinski und die Muromzews waren nicht die Einzigen, die vom Glauben abfielen oder, wie Prokofjew, den Glauben erst gar nicht annahmen. Ein reicher Russe namens Sak, auf den die Roerichs große Hoffnungen gesetzt hatten, eine Sängerin namens Irina Koschiz, die in der Schule als Lehrerin angefangen hatte, und noch einige weitere Emigranten, die in den Aufzeichnungen auftauchen, hatten eine ähnliche Entwicklung wie Derjuschinski gemacht. Nach diesen ersten Monaten wurden Außenstehende nicht mehr zu den Begegnungen mit Allal Ming zugelassen. Allal Ming konzentrierte sich ganz auf den Personenkreis, der bereit war, ihn als geistigen Lehrer und Führer anzuerkennen. Das war vorerst uneingeschränkt nur Nikolai Roerich, dann, in erheblich geringerem Ausmaß, die beiden Söhne Juri und Swjatoslaw und schließlich noch die beiden Lichtmanns.
Allal Ming gibt sich zu erkennen
Natürlich stellte sich die Frage, wer Allal Ming eigentlich war, das heißt, wann er gelebt und was er in seinem Leben auf Erden dargestellt hatte. Eine Frage, die Helena und Nikolai bald immer dringlicher stellten und deren Antwort sie nie wirklich bis in alle Einzelheiten erfuhren. Nur dass er aus dem zentralasiatischen Ost-Turkestan, aus der heutigen chinesischen Provinz Xinjiang, stammte, vor mehr als zweitausend Jahren gelebt hatte und selbstverständlich ein hoher Adeliger gewesen war. Doch die genauen Daten seines »irdischen« Daseins waren letztlich auch unwichtig angesichts einer alles überragenden Tatsache: Allal Ming war niemand anders als Mahatma Morya, der Lehrer Madame Blavatzkys. Doch das stellte sich erst nach und nach heraus.
Am 19. Mai 1921 kam auf die Frage, wer Allal Ming sei, die Antwort, man solle ihn mit dem Herzen finden. Am 29. Mai fragte Helena Roerich bereits, ob Allal Ming Kut Humi oder Mahatma Morya sei, und am 20. Juni war alles klar: Der Geist, der aus Helena sprach, bezeichnete sich selbst als Morya und sagte wörtlich: »Ich bringe Roerich Erfolg.«
Und Roerich hatte Erfolg wirklich dringend nötig. Doch der Weg bis dahin war vorerst lang und bitter. Immerhin erfuhr Nikolai Roerich, welche Reinkarnationen er bereits durchlaufen hatte. Die Liste war beeindruckend.
Unter anderem war er ein Zar der Ulusen im 14. Jh. v. Chr. gewesen, ein serbischer Einsiedler und Hellseher, ein Dalai Lama im 17. Jahrhundert und im dritten Jahrhundert vor Christus ein chinesischer Kaiser namens Fujama-Tsin-Tao. Fujama war denn auch der »esoterische« Name von Nikolai Roerich, und in späteren Jahren sollte Morya ihn nur noch als solchen ansprechen.
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