»Gern.« Van Splunter setzte sich auf den Mantel. Er zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie. »Kalt ist es.«
»Warum wurde er Ronnie Calypso genannt?«
»Er konnte gut tanzen.«
»Ach ja, natürlich. Lebte er schon lange in den Niederlanden?«
»Er wurde hier geboren.«
»Wo ist sein Vater?«
»Sein Vater ist tot. Mein jüngster Bruder. 1985 ist er gestorben.«
»Wie alt war er?«
»Fünfundvierzig.«
»Ist er ganz plötzlich gestorben?«
»Herzinfarkt.«
»Hat Ronnie für den Lebensunterhalt der Familie gesorgt?«
»Nein. Meine Schwägerin bezieht eine Rente. Ronnie hat aber manchmal in einer Autowerkstatt ausgeholfen.«
»Was hat er da gemacht?«
»Alles. Autos gewaschen ... geschraubt ... Ronnie war ein Autonarr.«
»Aber er fand keine feste Anstellung.«
»Nein.«
Der Chef der Hundestaffel und Schilder kamen auf sie zu. Van Splunter unternahm einen mühsamen Versuch, aufzustehen. Schilder zog ihn hoch und klopfte ihm die Rindenstücke vom Rücken. Van Arkel ergriff van Splunters Hand und stand gelenkig auf.
»Hier liegt er nicht«, sagte Schilder.
»Habt ihr das gesamte Gebiet abgesucht?«
»Ja.«
»Ist der Förster schon da?«
»Er wartet beim Bus«, antwortete Schilder.
»Geht ihr schon mal rüber«, sagte van Arkel. »Ich komme gleich nach.«
Jacob van Splunter starrte in die Ferne. Das Gespräch ging vollkommen an ihm vorbei.
Van Arkel berührte ihn sanft am Arm.
»Meneer van Splunter. Kommen Sie mit?«
Van Splunter nickte. Er sah auf einmal alt und müde aus.
»Wann geben Sie Ronnie frei, Inspecteur?«
»Vielleicht schon heute Nachmittag nach der Autopsie. Aber wie, äh ...«
»Wie wir ihn ohne Körper begraben wollen, meinen Sie.«
»Ja. Vielleicht können wir ihn für Sie aufbewahren.«
»Es kann Jahre dauern, bis Sie seinen Leichnam finden. Womöglich finden Sie ihn nie. Wollen Sie seinen armen Kopf die ganze Zeit im Kühlschrank liegen lassen?«
»Wenn nötig, tun wir das.«
»Ronnie hasste die Kälte. In dieser Hinsicht war er ein waschechter Antillianer. Er liebte die Sonne.«
»Wie wollen Sie ihn ... konservieren?«, fragte van Arkel.
»Wir haben so unsere Methoden«, antwortete van Splunter ausweichend.
Van Arkel hakte nicht weiter nach. »Sobald ich die Zustimmung der Staatsanwaltschaft erhalten habe, gebe ich ihn frei«, versprach er.
Die Antillianer gingen zu ihrem Auto. Van Arkel und Mirjam schauten ihnen nach.
»Warum waren die anderen Männer so schweigsam?«, fragte Mirjam.
»Antillische Sitte. Ein Mann redet, die anderen halten den Mund.«
»Bakker und Spruit fanden sie unheimlich.«
»Bakker und Spruit sind Esel in Uniform«, sagte van Arkel. Er ging zu dem Förster hinüber, der an sein Auto gelehnt auf ihn wartete, und reichte ihm die Hand. »Wir benötigen Ihre Hilfe, Meneer van Dijk. Könnten Sie sich heute und morgen zu unserer Verfügung halten?«
»Ich kann mir meine Zeit einteilen, wie ich will«, antwortete van Dijk.
»Sie haben einen Traumberuf«, sagte van Arkel. »Wissen Sie, vor welchem Problem wir stehen?«
Van Dijk nickte. »Sie haben einen Kopf ohne Körper.«
»Stimmt. Und ich habe zwei Fragen.«
»Wer hat es getan und wo ist die Leiche.«
»Genau.«
»Frage eins ist Ihr Problem. Bei Nummer zwei kann ich helfen.« Van Dijk warf einen Blick auf die Karte. »Welchen Teil des Waldes haben Sie bereits abgesucht?«
Der Hundeführer zeigte es ihm. »Dieses Stück. Wie groß ist der Wald?«
»Vierhundertvierundachtzig Hektar.«
»Dann haben wir die nächsten zwei Tage noch eine Menge zu tun.«
»Könnt ihr nicht den Samstag durcharbeiten?«, fragte van Arkel.
»Können wir schon«, antwortete de Boer. »Aber ich frage mich, ob das nötig ist. Wenn wir ihn mithilfe von jemandem, der sich im Wald auskennt, nicht innerhalb von zwei Tagen finden, können Sie davon ausgehen, dass er hier nicht liegt.«
»Was machen wir in der Zwischenzeit?«, fragte Mirjam.
»Wir beschäftigen uns mit Frage Nummer eins«, antwortete van Arkel. Irgendeine innere Stimme sagte ihm, dass die Suche im Wald sinnlos war. Der Körper lag woanders. Es war ein völlig irrationales Gefühl, die Intuition, die er schon verloren geglaubt hatte und die plötzlich zurückgekehrt war, als Ronnies Kopf auf seinem Schreibtisch lag. Ich muss mit ihm reden, dachte er.
»Komm, wir fahren zurück«, schlug er vor. »Ich möchte mit Ronnie reden.«
Mirjam warf ihm einen erstaunten Blick zu. Sie wollte etwas sagen, schluckte es aber hinunter und ging zum Auto. Ein Mordfall, in dem der Fahnder übernatürliche Methoden anwandte, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Hochinteressant. Und nutzlos. Wenn es etwas brachte, wäre es nicht zu beweisen. Um nicht zu sagen lächerlich.
Ein Jahr nach Andreas Entlassung aus dem Krankenhaus hörte eine Nachbarin spät am Abend in dem Haus, in dem Andrea, ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Klaasje und ihr Onkel Bertus wohnten, jemanden schreien. Der Schrei drang gedämpft durch die dicken Mauern des alten Hauses. Er ähnelte dem Kreischen eines Tieres in Todesangst, aber es war eine menschliche Stimme, die Stimme eines Kindes.
Das Geräusch brach plötzlich ab. Die Nachbarin weckte ihren Mann. Zusammen horchten sie eine Weile, doch auf der anderen Seite der Wand blieb es still.
Am nächsten Morgen beobachtete die Nachbarin die beiden Kinder, die wie gewöhnlich um acht Uhr zur Schule gingen, besonders aufmerksam. Auf den ersten Blick schien alles normal, doch wer genau hinschaute, sah, dass Andrea ein wenig merkwürdig ging. Die Nachbarin dachte an ein Ereignis aus ihrer eigenen Jugend in Zwartsluis zurück. Ein vierzehnjähriges Mädchen hatte ein Kind von ihrem Vater bekommen. Sie war anfangs genau so gelaufen wie Andrea, aber niemandem fiel auf, dass etwas nicht stimmte, bis die Familie Hals über Kopf wegzog.
Die Nachbarin blickte den Kindern nach, bis sie um die Ecke bogen. Sie zog ihren Mantel über und machte sich auf den Weg zum Polizeipräsidium.
Ronnies Kopf stand in der Pathologie auf dem Seziertisch des Rechtsmediziners. Der Schädel war auf der Rückseite mit groben Stichen zusammengenäht worden. Unten am Hals hing ein kleiner Faden. Der Assistent schnitt ihn ab. Van Arkel blickte den Pathologen an. Doktor Jansen war groß und mager und hatte eine auffallend spitze Nase. Seine Finger waren braun verfärbt vom Nikotin.
»Was haben Sie herausgefunden?«, fragte van Arkel.
Jansen zeigte auf die Bisswunde in Ronnies Wange. »Sie dachten, das wäre ein Fuchs gewesen, nicht wahr?«
»Stimmt.«
Jansen warf ihm einen eigenartigen Blick zu. »Der Biss stammt von einem Menschen.«
Van Arkel schaute sich entgeistert die Wunde an. »Aber wie kann jemand ein Stück aus einer Wange herausbeißen?«
»Wenn man seine Zähne gut pflegt«, meinte der Assistent.
»Ich meine natürlich: Warum würde jemand so etwas tun?«, sagte van Arkel.
»Diese Frage müssen Sie klären«, sagte Jansen. »Aber wir haben etwas gefunden, was Ihnen vielleicht weiterhilft.« Er blätterte in seinen Aufzeichnungen. »Im Gehirn befinden sich Spuren von Muskarin und Ibotensäure. Die Konzentrationen, die wir festgestellt haben, weisen auf den regelmäßigen Konsum von Amanita muscaria hin.«
»Narrenschwamm«, sagte der Assistent.
Jansen schaute ihn böse an und ergänzte: »Der gewöhnliche Fliegenpilz.«
»Wollen Sie damit sagen, dass er Fliegenpilze gegessen hat? Die sind doch giftig!«
»Nicht wenn man sie in Maßen konsumiert. Amanita wird seit Jahrhunderten als Droge gebraucht.«
»Und was hat die Tatsache, dass er Fliegenpilze gegessen hat, mit der Wunde zu tun?«
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