Jacob Vis - Der Kopf von Ijsselmonde
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Jacob Vis
Der Kopf von Ijsselmonde
Kriminalroman
Aus dem Niederländischen von
Stefanie Schäfer
Saga
Der Kopf von Ijsselmonde Übersetzt Stefanie Schäfer Original Het hoofd Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2006, 2020 Jacob Vis und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726412420
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
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SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
1
Das Arbeitspferd ging rückwärts, bis es kurz vor dem gefällten Baum stand. Der Holzrücker befestigte die Kette um den Stamm, nahm die Zügel auf und schnalzte. Das Pferd trat gehorsam an und schleppte den Stamm aus dem Wald.
Der Forstarbeiter blieb am Waldrand stehen und kontrollierte den Abschnitt, in dem sie an diesem Tag gearbeitet hatten. Der letzte Baum lag zehn Meter vom Weg entfernt, kaum sichtbar unter einer Schicht von Zweigen verborgen. Das Rückepferd zögerte. Der Mann erhob die Stimme und behutsam schritt es in das Gestrüpp hinein. Plötzlich sank das Tier mit dem rechten Vorderbein weg. Es kämpfte um sein Gleichgewicht. Der Holzrücker ließ die Zügel fallen und hakte blitzschnell die Kette los. Die Zügel bekam er jedoch nicht mehr rechtzeitig wieder zu fassen. Die Stute quälte sich aus dem Loch heraus und trabte zu ihrem Hänger, der hundert Meter weiter auf dem Waldweg stand. Der Forstarbeiter rannte ihr schimpfend hinterher.
Keuchend stand die Stute neben dem Hänger. Über ihren rechten Vorderhuf zog sich ein Streifen Blut und oberhalb des Kötenhaars klebte eine gelbgraue Substanz. Der Holzrücker kniete sich hin, um die Wunde zu untersuchen. Doch er konnte keine Verletzung erkennen. Merkwürdig. Angeekelt betrachtete er die Masse, die zäh auf den Weg tropfte. Er stellte das Pferd in den Hänger, füllte das Heunetz und schloss die Klappe. Dann holte er einen Spaten aus dem Auto, ging zurück zu der Stelle, an der das Pferd eingesunken war, schob die Zweige beiseite und begann zu schaufeln. Er grub wie ein erfahrener Bauer: kein Spatenstich zu viel. Plötzlich unterbrach er seine Arbeit. Auf dem Boden des Lochs lag ein mit Sand beschmutzter Menschenkopf, die Schädeldecke vom Pferdehuf halb eingetreten. Einen Augenblick starrte der Holzrücker seinen Fund reglos an. Dann hob er den Kopf mit dem Spaten aus dem Loch und trug ihn zum Hänger.
Die Polizeibeamtin am Schalter musterte den Mann, der mit einem zugebundenen Müllsack die Wache betrat. Er trug eine Wollmütze und ein altmodisches Jackett über einem Arbeitsoverall. Er sah müde und mitgenommen aus: ein Mann am Ende eines harten Arbeitstages. Er blieb an der Tür stehen und blickte sich um.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie freundlich.
»Ich möchte mit dem obersten Chef sprechen«, sagte er.
»Commissaris Klein hat Urlaub«, antwortete sie, »und Inspecteur van Arkel ist in Zwolle. Er wollte aber heute Nachmittag nochmal reinkommen. Ist es dringend?«
»Ja«, sagte der Mann. Er wirkte angespannt, entschlossen und hilflos zugleich. Sie betrachtete ihn, wie sie es auf der Polizeischule gelernt hatte. Wenn er jetzt ginge, würde sie ihn später haargenau beschreiben können.
»Ich könnte Adjutant Vermeer Bescheid sagen.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich will den obersten Chef sprechen.«
Er hielt den Sack fest umklammert, und dennoch hatte man den Eindruck, als könne er ihn jeden Moment von sich wegschleudern.
Sie zeigte auf den Sack. »Hat es etwas damit zu tun?«
»Ja.«
Die Polizistin war eine vernünftige junge Frau. Laut Vorschrift hätte sie die Sache genauer unter die Lupe nehmen müssen. Es hätte sich um einen Verrückten handeln können, der mit einer Bombe das Präsidium in die Luft jagen wollte. Aber der Mann sah nicht aus wie ein Verrückter. Er sah aus wie jemand, der mit etwas Grauenvollem konfrontiert worden war, und solche Menschen sollte man nicht mit Vorschriften belästigen.
»Wenn Sie mir nur schon mal Ihren Namen nennen würden«, bat sie.
»Jan Westerhof.«
Sie schrieb den Namen auf und notierte sich die Uhrzeit. »Ich rufe den Inspecteur im Auto an. Er wird inzwischen unterwegs sein. Aber es kann eine Weile dauern, bis er hier ist.«
»Ich warte solange.«
»Gut.« Sie zeigte auf die steinerne Wartebank. »Wenn Sie dort Platz nehmen möchten?«
»Ein Mann mit einem Sack?«, wiederholte Ben van Arkel. Die Stimme der Beamtin klang durch das Autotelefon leicht verzerrt. Er schaute hinüber zum Polizeipräsidium am anderen Ufer. »Sag Bescheid, dass ich gleich komme. Die Brücke wird gerade geöffnet.«
Das Mittelteil der eisernen Brücke ging in die Höhe. Von Norden näherte sich ein Lastkahn. Van Arkel stellte den Motor ab und betrachtete die Silhouette von Ijsselmonde: eine Reihe weißer, monumentaler Gebäude, begrenzt von zwei mittelalterlichen Toren. Auf der Südseite eine riesige Kirche. Von der Brüstung des Kirchturms aus blickte man auf die Dächer der alten Stadt: eine Mischung verschiedenster Baustile, vierzehntes bis zwanzigstes Jahrhundert. Der Gedanke, dass er in einem jener hübsch restaurierten alten Häuser an der Ijsselkade wohnte, versöhnte ihn einigermaßen mit den Zweifeln, die ihn hinsichtlich seines Berufs manchmal plagten.
Er fuhr auf die Brücke, hinter ihm eine Frau in einem Peugeot 205. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit einer etwas zu forschen Nase. In dem Moment, als sie nach links in die Kade einbog, raste ein junger Mann in einem alten BMW über die rote Ampel auf der gegenüberliegenden Seite. Er sah die Frau im letzten Moment und reagierte mit einer Vollbremsung, sein Wagen geriet ins Schleudern und blieb quer auf der Kreuzung stehen. Ein Aufprall schien unvermeidlich, doch die Frau fuhr in einem unnachahmlich geschickten Manöver um den BMW herum. Van Arkel schaute ihr voller Bewunderung hinterher. Dann stieg er aus und verpasste dem Straßenrowdy einen Strafzettel.
Vor dem Präsidium stand ein VW-Bus mit Pferdeanhänger. Über der Klappe des Hängers hing ein Pferdeschweif. Van Arkel zupfte kurz daran und sprang erschrocken auf den Bürgersteig, als das Pferd dröhnend gegen die Wand des Hängers ausschlug.
Die Beamtin am Schalter wies mit einem Kopfnicken auf den Forstarbeiter.
»Das ist er.«
»Ich nehme ihn mit in mein Büro«, sagte van Arkel. »War sonst noch etwas?«
»Nein, Inspecteur.«
Van Arkel streckte dem Mann die Hand hin und sagte: »Ich bin Inspecteur van Arkel. Sie wollten mich sprechen?«
Der Forstarbeiter erwiderte schlaff seinen Händedruck. »Jan Westerhof, Holzrücker. Ich wollte den obersten Chef sprechen. Sind Sie das?«
»Im Augenblick ja«, antwortete van Arkel. »Der Commissaris ist in Urlaub. Er kommt am Montag zurück. Wenn Sie ihn sprechen wollen, müssen Sie nächste Woche wiederkommen.«
Westerhof zeigte auf den Sack. »So lange kann das nicht warten.«
»Gehen wir in mein Büro«, sagte van Arkel. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
»Gern. Bestellen Sie gleich einen Schnaps dazu.«
Van Arkel lächelte. »Ist es so schlimm?«
Westerhof nickte. Van Arkel schaute ihn forschend an. Westerhof wirkte unnatürlich ruhig, als habe er etwas Schockierendes zu verkünden.
Ein Mann im Arbeitskittel brachte ein Tablett mit Kaffee. Westerhof legte den Sack auf den Tisch und fing an, die Knoten aufzudröseln.
»Setzen Sie sich lieber hin, Inspecteur.«
»Ich sitze schon«, erwiderte van Arkel, erhob sich jedoch, als der Sack aufging. Auf dem Tisch stand der Kopf eines jungen Farbigen; das Plastik lag ihm wie eine Krause um den Hals. Die Schädeldecke war eingedrückt. In der linken Wange klaffte ein Loch. Das restliche Gesicht war unversehrt. Er konnte nicht länger als ein paar Tage tot sein. Van Arkel schaute Westerhof fassungslos an.
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