Zwar hatte sie bemerkt, dass meine so genannte Freundin Maira (ja, wird so geschrieben) und ich schon geraume Zeit keinen Kontakt mehr hatten, doch das war in ihren Augen wohl nicht so ernst. Eine harmlose Kabbelei unter Mädchen! Bei unserem letzten Gespräch hatte Maira abschließend gesagt, sie beabsichtige alles Erdenkliche zu tun, um den anderen deutlich zu machen, dass mit meinem Kopf etwas nicht in Ordnung sei. »Ich werde dich DEGRADIEREN«, waren ihre Worte gewesen.
Wie diese Degradierung aussehen würde, wusste ich nicht, aber ich konnte es mir vorstellen: 1. Alle peinlichen Geheimnisse weitererzählen. 2. Erzählen, was in Visby vorgefallen war, und zwar so, dass meine Wenigkeit als Verräterin dastand. 3. Sich mit all denen verbünden, die mich ohnehin schon verachteten. 4. Mich als feige, krank und schrullig darstellen. Vielleicht sogar dieses ausgesprochen bescheuerte Foto zeigen, das ich von meinem eigenen Busen gemacht hatte, um zu beweisen, dass jede Brust in der richtigen Beleuchtung gigantisch aussehen kann, auch ohne Computertricks . . . oder dieses Foto von mir mit Schnurrbart, das ich aufgenommen und ohne jede krankhafte Absicht am Computer verändert hatte . . . Warum hatte ich ihr nur diese Ausdrucke gegeben? Lehre: Glaube nie, dass »deine beste Freundin« für immer »deine beste Freundin« bleiben wird.
Phalandra und Sinistra, so nannten wir uns gegenseitig. Als wir kleiner waren, nannten unsere Eltern uns »die beiden Kletten«. Arri und die kleine Maira, die sich eigentlich »Myra« schrieb (vielleicht hatten uns unsere ungewöhnlichen Namen zusammengeführt?). Myra, die »Ameise«, die ehemals Kleinste der Klasse, die inzwischen plötzlich danach zu streben schien, zu den obercoolen Typen zu gehören, die hatte mich jetzt also exkommuniziert.
Ich bemühte mich aufrichtig nicht daran zu denken, während ich mich zur Schule schleppte. Ermahnte mich streng, dass es nicht die geringste Rolle spiele, Maira sei ohnehin nur eine peinliche blasse Kopie meiner eigenen strahlend interessanten Person gewesen. In Wirklichkeit würde mir meine hoch entwickelte Begabung und Phantasie alles geben, was ich an Freundschaft benötigte, usw., usw.
Strahlend begabt und phantasievoll, schlurfte ich weiter die Straße hinauf, am Kindergarten und Freizeitheim vorbei. Eigentlich hätte ich schon längst die Schule wechseln müssen, aber der Mutterkuchen betonte jedes Mal, das komme nicht infrage, in anderen Schulen herrsche nämlich ein viel zu harter Geist.
Innerlich trällernd, lenkte ich meine Schritte demnach weiter bergauf zu den pastellfarbenen Nebengebäuden und dem grauweißen Haupthaus.
Aber kaum erblickte ich Maira, die in einem Grüppchen auf dem Schulhof stand und mir den Rücken zukehrte (hatte sie mich schon erblickt?), da wurde mir eisig kalt. Ich fühlte mich ungefähr wie ein hilfloses Kind, das widerstrebend zu einer Skitour mitgeschleppt worden ist, die andern irgendwann nicht mehr einholen kann und bezweifelt, ob überhaupt jemand bemerken wird, wenn es im Tiefschnee stecken bleibt, während die übrigen Pause machen und warmen Kakao trinken.
Mit meinen anderen Klassenkameraden hatte ich nämlich keinen besonders guten Kontakt, und zwar, weil in mir das hartnäckige und vermutlich bedauerliche Gefühl entstanden war, sie hätten mir nichts zu bieten. Maira dagegen hatte bereits lange vor den Sommerferien damit begonnen, ihre Fühler in alle möglichen Richtungen auszustrecken, fast so, als hätte sie damals schon vorgehabt, mit mir Schluss zu machen.
Aber bevor ich noch mehr von unserer interessanten Schule und Ähnlichem erzähle, ist es vielleicht angebracht, zu berichten, was tatsächlich hinter Mairas Drohung steckte, mich zu degradieren.
2. Kapitel
Was sich in Visby, der Stadt der Verdammnis, zutrug
Mairas Eltern verbrachten jeden Sommer ein paar Wochen in einem Haus in Visby auf der Insel Gotland. Sie teilten das Haus mit anderen Verwandten und dieses Jahr hatten sie endlich das Glück, während der Mittelalterwoche dort sein zu können. Und weil sie glaubten, Maira und ich seien immer noch »die beiden Kletten«, durfte ich mitkommen.
Vor ungefähr sieben Jahren war ich zum letzten Mal auf der Mittelalterwoche gewesen, seither hatten meine Eltern andere Dinge bevorzugt. Allerdings hatte ich schon als Zehnjährige ein sauertöpfisches, verschlossenes Naturell, daher erinnere ich mich vor allem daran, dass es mir in Visby viel zu voll gewesen war und ich die Erwachsenen albern fand. Gewiss muss es auch damals ein paar Lichtblicke gegeben haben, aber ehrlich gesagt, ist mir mein ganzes zehntes Lebensjahr als eine Art Nebel in Erinnerung geblieben, der durchlitten werden musste. Zu jener Zeit hatte ich noch keine speziellen Interessen. Spice Girls oder andere Popgruppen lagen mir nicht. Ich weiß noch, dass ich eine wachsende Anzahl scheußlicher kleiner Hunde und Hamster häkelte, vermutlich, weil ich mich nach echten Haustieren sehnte. Die konnte ich aber nicht haben, weil vor kurzem festgestellt worden war, dass sich zu den vielen lästigen Eigenschaften, die ich bereits besaß, auch noch eine Pelztierallergie gesellt hatte.
In kürzester Zeit häkelte ich eine ungeheure Menge wolliger Tiere in grellen Farben, die ich taufte und miteinander paarte. Ich führte über ihre Stammbäume und Nachfahren Buch, kleine pingelige Heftchen, die der Mutterkuchen immer noch in einer Schachtel aufbewahrt (als Monument nostalgischer Gefühle, die aus einer Zeit herrühren, als die Mutter-Tochter-Beziehung noch einfacher funktionierte, weil meine Wenigkeit noch keine spürbare Persönlichkeit entwickelt hatte).
Wie dem auch sei – da waren wir nun in Visby und endlich begriff ich, was eigentlich der Witz des ganzen mittelalterlichen Spektakels war! Es lief auf genau das Gleiche hinaus wie das Dasein meiner gehäkelten Tierchen, nämlich auf die Paarung. D. h. alle paarten sich, nur ich nicht. Ja, und dann gab es da noch etwas Wesentliches, das im Leben meiner gehäkelten Tierchen gar nicht vorkam, und das war, sich möglichst bis zum Exzess zu betrinken. Eine Tätigkeit, der ich mich ebenfalls nicht zu widmen pflegte (auch mit Drogen hatte ich nichts im Sinn, obwohl der Mutterkuchen sich manchmal einbildete, mein eigenartiges Verhalten müsse von irgendeiner Droge herrühren, die es zu ihrer Zeit noch nicht gab).
Maira und ich hatten uns zwei unglaublich mittelalterliche Kleider genäht, in die gewandet wir nun durch die Gassen zogen. Wir hatten den ganzen Sommer daran genäht und gestickt. Mairas Kleid war mitternachtsblau und meins schwarz, mit dazugehörigen Umhängen aus Synthetiksamt.
Maira hatte schon mehrmals damit gedroht, in den Tolkienverein einzutreten, obwohl sie wusste, dass mich nichts auf der Welt dazu bringen würde, dort Mitglied zu werden – denn wer will schon den Spuren seiner Väter folgen? Im Tolkienverein hatten sich meine Eltern nämlich anno 1982 unter den Namen Glorfindel und Goldberry kennen gelernt – ein schicksalhaftes Ereignis für mich und meine Schwester.
Bei mir steht Folgendes fest: 1. Keine Vereine. 2. Keine Rollenspiele. 3. Auch keine Life-Rollenspiele. 4. Kein Chorgesang. 5. Bitte, keine Schulaufführungen mehr! (Ich habe in der Achten in Ein Mittsommernachtstraum die Mauer gespielt und außerdem im Märchentunnel den Kleinen Bären mit so überzeugendem Gebrüll dargestellt, dass einer der Väter, die durch den Tunnel krochen, noch wochenlang danach einen Herzkasper hatte. Doch das ist eine andere Geschichte).
Im Übrigen neige ich nicht dazu, anthroposophische Wachskerzen zu ziehen und zu dekorieren, Federmäppchen aus Filz herzustellen, Papierlaternen zu basteln oder in Eurythmieaufführungen Herbstlaub darzustellen.
Hoppla, da bin ich aber weit vom Thema Visby abgekommen. Das hat wohl damit zu tun, dass mir immer noch leicht übel wird, wenn ich daran denke, was sich dort abgespielt hat.
Читать дальше