Bald würde sie dreißig Jahre alt werden und war damit in einem Alter, in dem sie nicht von anderen abhängig sein wollte. Es war okay, wenn man sich mit sechzehn Jahren die Handyrechnung bezahlen ließ, aber mit neunundzwanzig war man kein Teenager mehr, der auf Taschengeld angewiesen war.
Holly hatte finanziell gesehen bislang viel Glück gehabt. Dank ihres Collegefunds hatte sie keine Studienschulden und dank der Beharrlichkeit ihrer Schwester musste sie sich über die Finanzierung ihrer Dissertation keine Sorgen machen. Alexis hatte ihr nämlich das Versprechen abgenommen, sie bei ihrer Ausbildung zu unterstützen. Das Angebot hatte Holly gerne angenommen, und sie verstand das Bedürfnis ihrer Schwester, ihr unter die Arme zu greifen, was ihr Studium betraf. Und dafür war sie Alexis dankbar. Aber das bedeutete nicht, dass Holly nicht in der Lage war, ihren eigenen Unterhalt zu verdienen. Ihr machte es nichts aus, ein paarmal in der Woche in einem angesagten Restaurant in Beverly Hills am Empfang zu stehen, Gäste zu begrüßen, Tische zu koordinieren und Reservierungen zu bestätigen. Nur weil ihre Schwester millionenschwer und ein Superstar war, wollte Holly nicht auf der faulen Haut liegen.
Warum ihre Mom das nicht verstehen konnte, war ihr schleierhaft.
Holly biss ein weiteres Mal von ihrem Apfel ab und sagte sich, dass es ihr egal sein sollte, ob ihre Mom sie verstand oder nicht.
Ja, es sollte ihr egal sein, dass ihre Mom nicht verstand, dass Holly etwas von sich aus schaffen wollte und dass sie etwas Eigenes haben wollte – dass sie aus dem Schatten ihrer Schwester hervortreten wollte. Aber es war ihr nicht egal. Eigentlich machte es sie sogar ziemlich wütend, dass ihre Mom nicht einmal versuchte, sie zu verstehen. Es machte sie noch immer genauso wütend wie mit neun oder wie mit neunzehn Jahren. Und das war vermutlich auch der Grund dafür, weshalb sie kein konfliktfreies Verhältnis zu ihrer Mom hatte.
Sie warf den kläglichen Rest des Apfels in den Abfall und sagte sich, dass sie sich nicht den Tag versauen lassen wollte, indem sie über ihre verkorkste Mutter-Tochter-Beziehung nachgrübelte. Momentan war ihr Leben sowieso das reine Chaos, also musste sie nicht zusätzlich an dieser Baustelle arbeiten.
Noch vor zwei Monaten war alles in ihrem Leben perfekt gelaufen – ihr Doktorvater hatte sie für das renommierte Wyndham-Stipendium vorgeschlagen, die Ellesmere-Gesellschaft hatte sie für einen Vortrag über Chaucers frühe Werke aufs jährliche Royal Literature Festival nach London eingeladen, und sie hatte eine scheinbar großartige Beziehung zu einem Mann geführt, mit dem sie die gleichen Interessen teilte. Aber dann hatte sie entdeckt, dass der Mann, mit dem sie seit drei Monaten ausging, verheiratet war. Und zu allem Überfluss war der Mistkerl auch noch Vater zweier kleiner Kinder!
Holly schnappte sich ihre Tasche und den Rucksack und verließ die Küche, um in ihr Schlafzimmer zu gelangen. Vielleicht würde ein Schaumbad helfen, um den Ärger und die deprimierenden Gedanken zu vertreiben, die sich in ihr breitmachten.
In ihrem Zimmer angekommen warf sie ihre Sachen aufs Bett, zog sich aus und machte sich zusammen mit ihrem Handy auf den Weg ins Badezimmer, wo sie sich ein Bad einließ und großzügig nach Vanille duftenden Badezusatz ins Wasser gab. Sobald die Badewanne voll war, lehnte sie sich zurück und hörte über die Mediathek in ihrem Handy Musik, um sich ein wenig berieseln zu lassen.
Während Lenny Kravitz aus dem Handy zu hören war, dachte sie unwillkürlich daran, wie wütend sie geworden war, als sie erfahren hatte, dass ihr Freund ein verheirateter Familienvater war und dass sie somit die andere Frau war. Sie war die Geliebte gewesen – die Frau, mit der er seine Ehefrau betrogen hatte. Dass sie sich in diese Position manövriert hatte, war ziemlich beschissen gewesen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie eine wirklich ernsthafte Beziehung geführt und war damit auf die Nase gefallen.
Nach dem Desaster mit ihrem ersten Freund war Holly davon ausgegangen, dass ihr so etwas nicht mehr passieren würde. Aber offenbar hatte sie sich geirrt.
Mit achtzehn hatte sie Rick kennengelernt und sich prompt verliebt. Damals war sie auf dem College gewesen und hatte den Musiker mit dem seelenvollen Blick und der rauen Stimme so großartig gefunden, dass sie aus dem Wohnheim raus und in seine Bruchbude eingezogen war. Einen Musiker zum Freund zu haben, hatte sie aufregend gefunden – Bandproben, Auftritte, Studioaufnahmen. Rick war zwar notorisch pleite, selten nüchtern und alles andere als erfolgreich gewesen, aber Holly hatte das alles nichts ausgemacht. Was ihr jedoch sehr viel ausgemacht hatte, war die Tatsache gewesen, dass Rick hinter ihrem Rücken andere Frauen gevögelt hatte.
Damals war Holly zu der Erkenntnis gekommen, dass Musiker nicht dazu bestimmt waren, eine ernste Beziehung einzugehen. Sie waren zu sprunghaft, zu egozentrisch und zu verantwortungslos. Für etwas Festes waren sie einfach nicht geeignet, also hatte Holly einen großen Bogen um Männer wie Rick gemacht.
Nach ihm hatte es einige Männer in ihrem Leben gegeben, aber sie waren nie lange geblieben. Entweder hatte Holly nichts Festes im Sinn gehabt, oder es hatte sich herausgestellt, dass der betreffende Kandidat völlig ungeeignet für eine Beziehung war. Daher hatte sie sich darauf verlegt, Spaß zu haben.
Männer, mit denen man Spaß haben konnte, gab es wie Sand am Meer. Aber Männer, mit denen sie sich eine Beziehung vorstellen konnte, mit denen sie ernsthafte Gespräche führen konnte und mit denen sie die gleichen Interessen teilte, gab es augenscheinlich nicht.
Dann hatte sie Oliver kennengelernt.
Von Beginn an hatte er sie fasziniert, immerhin war er charismatisch, intelligent und humorvoll. Zur Abwechslung einen Mann kennenzulernen, der distinguiert und seriös war, hatte ihr gefallen. Anders als die Männer aus ihrem Freundeskreis, die auf den Putz hauen wollten, hatte sich Oliver für Literatur, gute Weine und den Sinn des Lebens interessiert. Mit ihm hatte sie sich stundenlang über Gott und die Welt unterhalten können und es genossen, wie gebildet und belesen er war. Er war durch und durch ein Mann und kein Junge.
Wenn sie essen gegangen waren, hatte er den Wein ausgesucht und ihr erklären können, woher dieser stammte und was das Besondere daran war. Das hatte sie beeindruckt. Seine Wohnung war voller Bücher gewesen, und anstatt zusammengeklaubter Studentenmöbel war seine Einrichtung geschmackvoll und perfekt aufeinander abgestimmt gewesen. An den Wänden seines Wohnzimmers hatten kunstvolle Lithografien gehangen und keine Festivalposter. Dates mit ihm waren anders verlaufen als mit den Typen, mit denen sie zuvor ausgegangen war. Er hatte ihr die Tür aufgehalten, aus der Jacke geholfen und den Stuhl zurechtgerückt. Und sie waren in guten Restaurants essen gewesen und nicht in irgendwelchen Stehbistros, in denen man mit den Händen aß.
Oliver hatte Lebenserfahrung besessen und diese auch ausgestrahlt.
Das hatte Holly gefallen.
Der Altersunterschied von achtzehn Jahren war für sie kein Problem gewesen. Das einzige Problem war die Tatsache gewesen, dass er verheiratet gewesen war und ihr nichts von seiner Frau und seinen Kindern erzählt hatte, die fünftausend Meilen entfernt lebten.
Verdammt, sie hatte sich grauenvoll gefühlt, als die Affäre aufflog. Und sie fühlte sich noch immer grauenvoll, weil diese Affäre nicht nur auf sie Auswirkungen gehabt hatte.
Holly sackte tiefer ins Wasser hinein.
Vielleicht sollte sie es lieber aufgeben, nach einem Mann für eine feste Beziehung zu suchen, und wieder mit Männern ausgehen, von denen sie keine tiefschürfenden Gespräche erwarten durfte. Womöglich waren ungezwungene Sexabenteuer, die Spaß machten und niemandem wehtaten, die beste Alternative.
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