Nun aber stand dem Brunnen nichts mehr im Wege.
Die längsten Hebel wurden angesetzt, und Schaufel und Pickel dazu. Von den ehrwürdigen alten Scheunen, die schon so manches Donnerwetter glücklich überlebt hatten, sausten die Ziegel mit unheimlicher Eile auf den Erdboden nieder, so, dass sie nach wenigen Tagen schon aussahen, wie geschlachtete Tiere, welchen man das Fell abgezogen.
Die Fremden, die dann an den nächsten Sonntagen durchs Dorf kamen, blieben stehen und fragten, mit Bedauern in Stimme und Miene, ob’s da gebrannt habe.
Aber es wurde ihnen nur stets die tröstliche Antwort:
„Nein, wir graben jetzt einen grossen, tiefen Brunnen; es wird jetzt bald anders zu Krummbach, als es gewesen.“
In der Umgebung von Rosenach, Erlenheim und Krummbach und viel weiter noch war der Katzengusti eine gewissermassen berühmte Persönlichkeit. Jung und alt kannte ihn, sogar die Behörden, die im gewöhnlichen Leben sonst sehr zurückgezogen sind und sich um andere Leute nicht viel bekümmern, schenkten ihm bisweilen ihre Aufmerksamkeit. Woher sein sonderbar klingender Name kam, denn von seinen Eltern und vom Pfarrer hatte er gewiss einen andern erhalten, das wusste eigentlich niemand. Schon die ältesten Grossväter hatten ihn unter diesem Namen gekannt, die Jungen hatten ihn von ihnen übernommen, ohne dass sich je einer gefragt hätte, welche Bewandtnis es damit habe.
Vor vielen Jahren — so erzählten die Bauern — war er als blutjunger Bursch in die Gegend gekommen; und war schon damals der richtige Teufelskerl gewesen. Er konnte alles und wusste überal Bescheid. Er flocht neue Körbe und flickte die alten, schabte am Sonnabend den Bauern die Bärte, wenn eine Kuh in Geburtsnöten lag, holten sie ihn, und wenn eine der wenigen Uhren, die in Krummbach hingen, nicht mehr mit der Zeit gehen wollten, musste er auch da helfen. Er wurde der Gemeinde schliesslich für ihr irdisches Dasein ebenso unentbehrlich wie der Herr Pfarrer für das Heil ihrer Seelen.
Er verliebte sich nach einem Jahr oder so in des Hansjakobs „Kleine“, die mit ihrer Mutter in einem ärmlichen Häuschen gegenüber vom „Gesprungenen Krug“ wohnte. Weder die Mutter noch ihre sonstigen Verwandten sahen dies gerne. Der Katzengusti schien allen ein gar zu flücker Geselle. Doch wie sich dies gewöhnlich so begibt, entflammte der Widerstand nur noch mehr sein zartes Sehnen. Und als die Mutter eines Tages starb, führte er die zierliche Anne als seine Frau vor den Altar und bezog mit ihr das kleine Häuschen, das ihm als Mitgift zugefallen war.
In dem einzigen Zimmer, das schon vorher Wohnund Schlafzimmer an einem Stücke gewesen, richtete er sich obendrein noch eine Werkstatt her. Dort arbeitete er, fast ohne sich Ruhe zu gönnen, Tag und Nacht. Er hätte es sicherlich zu etwas gebracht, denn auch die kleine Anne war häuslich und brav und half ihm, wo immer sie konnte. Doch die rotwangige Frau hatte von ihrem frühverstorbenen Vater ein tückisches Lungenleiden ererbt, das im geheimen ihre Lebenskräfte aufzehrte, als sie in vollster Blüte schien.
Der Katzengusti arbeitete einmal auswärts, auf der „Stör“, wie die Bauern sagen, und als er nach Hause kam, fand er die Anne am Fussboden liegen, in einer roten Lache. Er trug sie sorgsam ins Bett. Sie atmete noch leise. Doch nach wenigen Stunden schon rieselte abermals Blut aus ihrem Mund. Der Katzengusti umfasste da sein Weib. Mit seinen Händen wollte er das Leben in ihrem jungen Körper zurückhalten. Aber als der Morgen graute, röchelte sie schwer und kannte ihn nicht mehr. Und als es vollends Tag wurde, lag sie wachsbleich auf ihrem Lager, ganz ruhig und still. Die kirschroten Wangen waren ihr noch geblieben. Mit weit offenen, entsetzten Augen starrte sie zur Decke empor. Der Katzengusti kniete vor ihrem Bett, den Kopf tief in die Kissen gedrückt, regungslos.
So fanden sie ihn am Abend.
Als sie ihn aufrüttelten, starrte er sie mit seltsamen Augen an. Sein Geist schien weitab zu sein. Er sprach kein Wort. Aber aus dem Zimmer war er nicht zu bringen.
Als sie die Anne auf dem Kirchhof versenkten, blieb er an ihrem Grabe sitzen; zwei volle Tage. Und da meinten sie, er sei „darüber hinausgekommen“ — um den Verstand nämlich. —
Doch dem war nicht so. Er war nur betäubt gewesen. Und als er wieder zu sich kam, war er ein anderer geworden. Was er an Hab und Gut in dem kleinen Häuschen hatte, das machte er zu Geld. Und trug alles, bis auf den letzten Batzen, in den „Gesprungenen Krug“ oder ins „Kreuz“ — in die „Krone“ ging er nicht, weil er den Wirt dort nicht leiden mochte. Er trieb’s bunt ein paar Wochen lang. Wenn er selbst nicht mehr trinken konnte, half ihm mancheiner gerne die Flasche leeren. So sah er denn gar bald seinem Beutel auf den Grund.
Doch nun fing er erst recht ein liederlich Leben an. Er rührte kaum mehr einen Finger zur rechtschaffenen Arbeit, sondern trieb sich als Nichtsnutz und Tunichtgut in der Gegend herum.
Die Jahre kamen und gingen. Den Gram um sein totes Weib schien der Katzengusti allmählich überwunden zu haben. Er wurde wieder der ausgelassene Bursche von ehemals. Nur wenn er lachte, zog sich sein Mund in weinerliche Falten, so dass es manchem ins Herz schnitt, wenn er ihn ansah.
Auch er war mit der Zeit alt geworden, doch steckte er immer noch voller Teufeleien, voller lustiger Streiche, von den fast stets zerrissenen Schuhsohlen bis zum ergrauten Haarschopf.
Ausgemergelt und klein ward er von Gestalt, gebückt, oder vielleicht auch nur geduckt wurde die Haltung seines eingetrockneten Körpers. Sein Gesicht hatte viel Ähnlichkeit mit altem, verwittertem Holz angenommen. Es lief darin von Runzeln und Gräblein um Augen und Mund, über die braune Stirn bis zu den struppigen Haaren hinauf. Wie eine schnurrige Geschichte sah sein Gesicht aus. Und daraus blickten zwei listig-verschlagene Äuglein, ein jedes für sich — eins schiele nach verborgenen Schätzen und das andere nach dem Landjäger, sagten die, die ihn kannten.
Doch eigentlich Böses hat der Katzengusti sein Lebtag nie getan, wenn auch für etliche seiner Leistungen ein Paragraph in der Gesetzgebung, die bekanntlich keinen Humor kennt, aufgezeichnet ist.
Hätten seine Richter ihm mehr in die Seele, als nur auf seine wenig vorteilhafte Oberfläche blicken können, so würden sie ihn für viel unschuldiger gehalten haben, als die verhaftungsgierigen Polizisten wollten glauben machen. Und sie hätten ihm die goldene Freiheit dann sicherlich weniger oft entzogen.
Das kleine Häuschen gegenüber vom „Gesprungenen Krug“ hatte er all die Jahre hindurch behalten, wie oft auch die bittere Not an ihn gekommen. Es war längst keine Scheibe mehr in dem eingefallenen Kreuzstock, und die Tür hing kläglich schief in ihren Angeln. Ein Strohsack, der an der Stelle lag, wo früher das Bett gestanden, war das einzige Mobiliar. Rings um ihn herum standen nackte Mauern, welche ein grünlich-weisser Schimmel überzogen hatte.
Uber stets, wenn ihn sein Weg durchs Dorf brachte, blieb der Katzengusti dort über Nacht. Und die Nachbarn wollten gehört haben, dass er dann stundenlang laut mit sich selber sprach. Dummes, verworrenes Zeug freilich, das kein vernünftiger Mensch verstehen konnte.
In der Zeit, als die von Krummbach den Brunnen zu graben beschlossen, war er krank gewesen. Fast ein Jahr lang lag er in Lauental im Kantonspital.
Da hatte er so von ungefähr erfahren, welch grosse Dinge sich dort oben, in dem entlegenen Bergdörflein, vorbereiteten. Auch dass sie schon begonnen hatten sein Häuslein abzubrechen, war ihm zu Ohren gekommen. Und kaum dass er wieder gehörig auf den Beinen war, verliess er das Spital und machte sich auf den Weg, um nach seinem einzigen Eigentum zu sehen.
Es war an einem blauen, warmen Maitage, als er gemächlich fürbass auf der staubigen Landstrasse Pappeln zuschritt.
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