Tyran hörte nicht auf, sich umzusehen, während die Königin ihn ihrerseits musterte. Er war diese Begutachtung zu sehr gewöhnt, um sich davon erniedrigt zu fühlen.
Der Zustand der Sklaven, die er sehen konnte, reichte von annehmbar bis kurz vor dem sicheren Tode stehend. Am meisten erschreckte es ihn, dass man bei einigen das dichte Gefieder der Flügel ausgedünnt und gestutzt hatte. Instinktiv zog Tyran seine Flügel näher an seinen Körper heran, nur um im nächsten Moment zu spüren, wie die Finger der Königin sich um seinen Flügelbogen schlossen. Sie fuhr bewundernd über die ebenmäßigen dunkelgrauen Federn.
»Sie sagen, an dir kann man sich die Finger verbrennen«, erklärte sie ihm. »Dass dein Temperament so rot brennt wie deine Rún.« Sie streckte die Hand nach seinem Schopf aus. »Und wie dein Haar.«
»Wer sagt das denn?«, fragte Tyran mit ruhiger Stimme.
Seine blauen Augen verengten sich zu Schlitzen, als er beobachtete, wie die Königin von einem Fuß auf den anderen trat. Eine Ungeduld lag in ihrem Wesen, die sie wohl nur selten zu zügeln versuchte.
Sie ignorierte seine Frage, während sie ihn genauer in Augenschein nahm.
»Ich will ihn ganz sehen. Er soll sich ausziehen.«
Tyran hatte mit dieser Aufforderung gerechnet. Er fragte sich, wie viele es eine oder beide Hände gekostet hatte in den letzten Jahrhunderten, die es gewagt hatten, ihm die Kleidung herunterzureißen. Aber im Moment hemmten die Ketten seine Macht noch erheblich. Wollte er die Mahr einsetzen, musste er diese erst sprengen und sie dann verwenden. Er konnte es schaffen. Die Königin stand unvorbereitet vor ihm. Wenn er sich geschickt anstellte, konnte er ihr das Genick brechen, bevor sie auch nur einen weiteren Satz aussprach. Tyran konnte gerade noch ein Grinsen unterdrücken. Er hatte schließlich einen Ruf zu verlieren.
Er sammelte die Kräfte seiner Rún, doch bevor er dazu kam, sie zu bündeln, bahnte sich ein heftiger, stechender Schmerz seinen Weg von einer Schläfe zur anderen und ließ Tyran nach Luft schnappen.
Nur eine Warnung. Es war nur eine kleine Erinnerung gewesen. Die Erinnerung an das eine Werkzeug, mit dem sich keine Schellen aus Mahrillium und keine Peitsche in Norfaega messen konnte.
Mit leise brodelnder Wut sah Tyran mit an, wie einer der Männer, der ihn begleitet hatte, drei kleine Kristallanhänger abstreifte und sie Elnesta aushändigte. Ohne Umschweife reichte sie zwei davon an ihren Herold weiter. Die Königin zog eine lange Kette aus den Falten ihres Kleides. Andere hätten daran einen Schlüsselbund vermutet – Tyran wusste es besser. Sie schob die kleine Öse, mit der der Anhänger gefasst worden war, über die Kette. Tyran spürte, wie ihr Geist nach der neuen Verbindung suchte. Übelkeit stieg in ihm auf, als er ihre mentale Signatur über sein Innerstes streichen spürte.
Die Scherbe.
Er kannte keinen einzigen Mann, der sie trug, den sie nicht in Schrecken versetzte.
Tyran hob die aneinandergeketteten Hände, langsam genug, dass die Wachen ihn gewähren ließen, und begann, den Halsverschluss seiner asykanischen Tunika zu öffnen. Wer ein Paar Flügel auf dem Rücken trug, war auf Kleidung angewiesen, die man nicht über den Kopf ziehen musste. In seinem Fall war es eine äußert simple Jagdtunika aus weichem Wildleder, die nur im Nacken und am Rücken unter den Flügel zugeknotet wurde.
»Eine Schürze mit Ärmeln«, bemerkte einer der Männer verächtlich, während er die unteren Knoten löste, die Tyran unmöglich erreichen konnte.
Nur die Tatsache, dass Elnesta einen Kontrollanhänger der Scherbe besaß, hielt Tyran davon ab, den Mann anzufallen. Es war ein traditionelles Kleidungsstück, das nichts mit dem Protz und Tand Shaylas zu tun hatte; anschmiegsam, sodass es nicht beim Fliegen behinderte.
»So eine Tunika hat auch Fafnar Stormblood getragen, Scheißkerl«, flüsterte Tyran. Seine Tunika fiel zu Boden.
Die Königin umkreiste ihn. Als sie wieder in seinem Blickfeld auftauchte, rümpfte sie die Nase.
»Er ist schmutzig.«
Das war er – aber das war auch noch erkennbar gewesen, als er sein Hemd noch getragen hatte. Die Tage in einem Käfig auf vier Rädern hatten Spuren hinterlassen. Als ihre Fingerspitzen begannen, ein wenig Staub von seiner Schulter zu reiben, kam ihm das Bild der Königin mit gebrochenem Genick wieder in den Sinn.
»Ich will, dass er gewaschen wird«, befahl die Königin. »Danach soll er auf mein Zimmer kommen.«
Und obwohl Tyran diesen Befehl schon oft genug in seinem Leben gehört hatte, verfehlte er auch dieses Mal nicht die Wirkung auf seinen Geist, als hätte die Lady Elnesta einen Funken der Mahr auf trockenes Holz fallen lassen. Der Zorn, der eben noch in feinen Strömen durch seine Blutadern geflossen war, erhitzte sich unter der nahenden Erniedrigung.
Sie war eine Hure, so, wie Königin Lamia eine war, wie alle Marionetten, die sich in Shayla ausgebreitet hatten wie eine ansteckende Krankheit. In Kriegszeiten wollten sie sein Schwert, das, wenn man ihm genügend Motivation gegeben hatte, durch die Reihen der Widerständigen fuhr wie eine Sense in einem Weizenfeld. Aber sobald dies geschehen war, wünschten sie alle sich seine Beteiligung an einem anderen Krieg, schmutziger noch als die Himmelsschlachtfelder von Askyan.
Rodric und er hatten unterschiedliche Arten, damit umzugehen. Es war zwar seltener für Rodric, an einen weit entfernten Hof geschickt zu werden – Königin Lamia teilte ihn nicht häufig, und wenn, dann verfolgte sie üblicherweise ein tieferliegendes Motiv. Trotzdem glaubte Tyran nicht, dass Rodric noch zählen konnte, vor wie vielen Königinnen er gekniet hatte.
Genauso wenig wie er.
Und auch in der Tatsache, dass sie beide sich Wege suchten, um die Schlachten in den Schlafgemächern auf ihre Weise zu gewinnen, ähnelten sie einander.
Der wahre Unterschied lag in der Geduld, die sie dabei an den Tag legten. Rodric konnte warten. Es war für ihn gleich, ob seine Rache erfolgte, bevor die ersten Sonnenstrahlen seine Haut am Morgen berührten, oder ein Jahrhundert danach.
Der Kuss des Blutritters war ein tödliches Versprechen, wenngleich die Marionettenköniginnen es bisweilen vergaßen.
Und er … Tyran lächelte. Er war anders. Er war schneller.
Aber selbst er konnte erkennen, dass der Moment ungünstig war. Die Krieger warteten nur darauf, dass er versuchte, sich von den Ketten zu befreien. Stattdessen bückte er sich, als man ihm einen Stoß versetzte, um sein Wams aufzuheben, und ließ sich von dem Herold und mehreren herbeigerufenen Kriegern zu einer der Sklavenbaracken führen. Noch mehr Holz. Oakwrath Hall schien geradezu darum zu bitten, dass er ein Freudenfeuer entzündete, sobald sich die Gelegenheit bot.
Der Nachtalb ging mit zielstrebigen Schritten voran, die Krieger schoben Tyran hinter ihm her.
»Ich werde das nur ein einziges Mal sagen, also hörst du besser zu, askyanischer Hurensohn«, sagte der Herold, ohne sich zu ihm umzudrehen. »Ich habe von deiner Sorte hier schon so einige gesehen. Ihr kommt hier an mit eurem großen Mundwerk, den Schmierereien auf euren Armen und glaubt, weil ihr schon einmal ein Schwert in der Hand hattet, gäbe es eine Möglichkeit, aus Oakwrath zu entkommen.«
Für einen Moment gestattete Tyran sich, die Gedanken abschweifen zu lassen, in den Trott ihres Schrittes zu verfallen, die Arme und die Flügel sinken zu lassen, und hinaufzublicken in den wolkenverhangenen Nachmittagshimmel. Als Sturmalb machte ihm die Kälte in Shayla nichts aus; in Askyan hatte es sicher schon geschneit. Schneeflocken waren nichts, was seinen Schwingen oder ihm ein Problem bereiten konnte.
Oakwrath roch nach toten Bäumen und dem nahenden Winter, nicht nach Freiheit und Familie wie Askyan, aber trotzdem war Tyran dankbar über die offene Bauweise.
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