»Wir müssen zurück!« Die Worte waren ihren Lippen so plötzlich entwichen, dass es sie selbst überraschte. Aber ja – ja! –, sie mussten zurück. »Zurück nach Amber Hall. Wir müssen meine Eltern holen. Ich weiß nicht, wo meine Mama ist«, fügte sie hinzu.
Der Griff um ihren Arm wurde lockerer, nur um sich danach noch mehr zu festigen. »Lyraine, Kind, es ist dort niemand mehr am Leben.«
Lyraine spürte, wie ihr schwindlig wurde. Ihr Sichtfeld wurde schmaler, doch sie kämpfte gegen die Schwärze an, die ihr den Blick verdunkelte. Sie durfte jetzt nicht an diese Worte denken. Sie konnte das nicht anhören. Der Truchsess zog sie in seine Arme. Er roch nach seinen Keksen und nach Blut und nach Schwefel.
»Was ist passiert?«, flüsterte Lyraine. »Erklärt es mir, bitte!«
Gorwyn legte erschöpft seinen Kopf an den Baumstamm. Sie konnte erkennen, dass er mit sich selbst rang, wie es Erwachsene taten, wenn sie versuchten, zu entscheiden, ob das Kind vor ihnen alt genug war, um etwas erklärt zu bekommen.
»Meister Gorwyn«, sagte sie mit zitternder Stimme, »ich bin siebeneinhalb.«
Normalerweise war dies eine Aussage, die ihn zum Schmunzeln und zum Nachgeben brachte. Dann fing er an zu erzählen und zu erklären, was dieses oder jenes Schutzzeichen bedeute. So war es üblicherweise.
Heute wurde der Ausdruck in seinen Augen noch trauriger. Er legte seine Hand behutsam auf ihren Scheitel.
»Es ist wegen dem, was vor zwei Wochen im Kristallpalast passiert ist, nicht wahr?«, mutmaßte sie. »Mit Königin Lamia?« Den Namen konnte man nicht vergessen. Er wurde viel zu oft genannt. Von allen. Von Brandon im Stall und von Meister Lewyn, wenn er mit ihrer Mutter sprach. Von ihrem Vater, wenn der sich mit der Garde beriet.
Gorwyn nickte langsam.
»Die Herrin des Kristallpalastes hat vor einem Monat eine Einladung ausgesprochen, die, wie du weißt, von deiner Mutter angenommen wurde, um – Verhandlungen zu führen. Politische Gespräche«, erklärte Gorwyn. »Doch sie konnten sich nicht einig werden.«
»Über was?«, fragte Lyraine. Der Erdalb schloss für einige Sekunden die Augen. Lyraine griff nach seiner Hand. Er sollte nicht einschlafen.
»Darüber, ob Königin Marielle dem Kristallhof Gefolgschaft schuldet oder nicht«, antwortete Gorwyn. Er blickte Lyraine unter schweren Augenlidern an. »Du weißt, dass Shayla einst aus elf traditionellen Höfen bestand«, sagte er dann leise, »und von elf verschiedenen souveränen Königinnen regiert wurde. Das ist schon lange nicht mehr so, Lyraine. Höfe sind … zerbrochen. Gefallen. Als Königin Lamia den zentralen Thron bestieg, übte sie einen sehr, sehr großen Einfluss auf die anderen Königinnen aus, und auf die Männer, die den Königinnen folgten.«
»Wieso haben die anderen Königinnen sich nicht zusammengeschlossen?«, fragte Lyraine atemlos.
»Weil manche von ihnen – das wollten, was Königin Lamia ihnen versprach: mehr Reichtum.« Gorwyn legte seine Hand auf Lyraines. Sie war kalt. Sehr kalt. »Mehr Macht.«
Lyraine senkte den Blick und versuchte, das Gesagte in Gedanken zu ordnen. In diesem Moment erfassten ihre Augen etwas, was sie vorher nicht richtig wahrgenommen hatte.
»Meister Gorwyn«, stieß Lyraine hervor, sich vorbeugend, »Ihr seid verletzt!«
Jetzt verstand sie, wieso Gorwyn sein Bein so merkwürdig hielt – eine Wunde klaffte darin. Lyraine zog den Stoff an seinem Oberschenkel leicht auseinander, obwohl der Erdalb sie davon abzuhalten versuchte.
Die Wunde war nicht groß, aber tief. Das Blut kam ihr entgegen, als sie die Haut berührte, und Gorwyn krümmte sich.
»Meister Gorwyn«, flüsterte Lyraine, »es tut mir leid – ich habe nicht gesehen …« Sie richtete sich auf. »Ich hole Hilfe.«
»Nein!« Gorwyn wollte sie wieder am Arm fassen, aber dieses Mal war sie schneller. Lyraine hob seine Jacke auf und breitete sie über seiner Brust aus. »Lyraine, du kannst nicht zurück zum Anwesen laufen. Dort – dort ist niemand mehr«, beschwor Gorwyn sie. Lyraine nickte. Niemand mehr.
»Versucht, ganz ruhig zu liegen«, bat sie den Truchsess, während sie schon die ersten Schritte machte. »Ich bin, so schnell es geht, wieder hier.«
»Was, bei den Himmelslichtern, ist hier geschehen?«, fragte Varcas und trat in das Langhaus. Ohne zu zögern, streckte er die Hand aus und berührte den Mann. Die Totenstarre begann sich bereits wieder zu lösen. Er konnte auch schon einen Hauch des einsetzenden Verwesungsgeruchs wahrnehmen. Der kalte Herbst sorgte dafür, dass der Geruch nur leicht verströmte, aber noch nicht das ganze Langhaus durchdrungen hatte.
»Es waren die Männer der Kristallkönigin, M’lord.«
Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete Varcas den Toten. Auf dem Fußboden anderthalb Meter unter den Füßen des Mannes hatte sich Blut gesammelt, das bereits vollständig getrocknet war. Die Menge ließ keinen Zweifel zu: Als sie den unglücksseligen Mann an das Geländer geschlagen hatten, hatte er noch gelebt.
Lenka wandte sich ab und Varcas drehte sich ihr zu. Er wollte nicht zu sehr auf eine Erklärung drängen, jetzt, da er verstand, dass sie ihren Ehemann erst vor Kurzem verloren hatte. Dennoch war er erleichtert, als sie sich innerhalb einiger Augenblicke wieder zusammenriss und ihn ansah.
»Es hat einen Angriff gegeben auf die Festung Amber Hall.«
Amber Hall. Varcas erinnerte sich daran, dass, als er sich zurückgezogen hatte, eine Königin Orianna – oder so ähnlich – in dem kleinen Königreich im Südwesten Shaylas regiert hatte. Es war mit den alten Anwesen und Festungen eine schwierige Sache, was das Vererben anging. Die alten Familiensitze, die meistens auch Regierungszentren der Höfe waren, die sich bildeten, blieben nicht immer in der Hand der gleichen Familie. Das kam mit der Schwierigkeit, dass nicht in jeder Generation eine Königin geboren wurde: Es war ein reiner Zufall wie bei jeder anderen Kaste, die durch eine Rún bestimmt wurde.
Normalerweise waren die Anwesen jedoch nicht an einen Königinnentitel gebunden, sondern in der Hand einer Aristokratenfamilie, die, sollten sie nicht selbst eine Königin hervorbringen, einen oder mehrere Söhne im Trigon einer Königin unterzubringen versuchte. Im Idealfall stand selbstverständlich die Heirat mit einer Königin oder zumindest die Position des Gefährten noch höher, aber solche Arrangements hatten sich schon zu seiner Zeit als schwierig herausgestellt. So konnte es zu den Fällen kommen, dass einer Königin nicht das Haus gehörte, in dem sie residierte. Varcas konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, aus welchem Haus Orianna gestammt hatte und ob es bei ihr ebenfalls so gewesen war.
In wieder anderen Fällen wurden die Anwesen zeitweise nicht mehr als Höfe genutzt, wenn sich eine Königin mit einem Konkurrenzhof im gleichen Gebiet ansiedelte. Dann kam es oft dazu, dass ein männlicher Albenlord mit Macht und Reichtum mehr Gewalt über ein Gebiet ausübte als die nichtadlige Königin ohne Unterstützer.
Manchmal gab es dann friedliche Lösungen, oft genug kam es aber auch zu blutigen Konflikten.
Es wurde umso verwirrender, da im Falle einer Heirat die Kinder zumeist den Namen des Vaters trugen. Die Familienverhältnisse der Albenaristokratie zu durchschauen war eine Lebensaufgabe. Vermutlich, dachte Varcas trocken, war das auch ein Grund, warum viele adlige Alben es vorzogen, möglichst in engen Banden zu heiraten.
»Haben fast alle im großen Haus getötet, M’lord. Und wer nicht getötet wurde, den haben sie in Ketten gelegt«, ergänzte der Erdalb. Wut trat in seine Augen. Als er weitersprach, senkte er seine Stimme, als fürchtete er, belauscht zu werden: »Ich sage, es war nicht recht, Herr. Königin Marielle war eine gute Königin, und Lord Moonfall war vielleicht streng, aber auch gerecht.«
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