1 ...8 9 10 12 13 14 ...38 »Ihr dürft nicht falsch verstehen, Herr«, sagte sie, die Stimme senkend. »Aber hier ist kein Ort, an dem Ihr heute bleiben solltet.«
Varcas blickte in das Gesicht der Frau, das er durch die Kapuze kaum erkennen konnte. Für einen Moment vergaß er, wen er darzustellen versuchte, und hob die Hand. Mit der Selbstverständlichkeit des hochrangigen Albenlords, der er war, schob er die Kapuze zurück, und entblößte einen dunklen Bluterguss unter ihrem Auge.
»Mylord«, sagte sie, einen Schritt zurückmachend. Schlagartig war nicht mehr viel von ihrem Selbstbewusstsein übrig.
»Ihr und die Euren brauchen sich nicht zu fürchten. Ich bin lediglich ein Reisender.« Varcas sprach laut genug, damit auch die Bewohner des Dorfes, die in den Ecken und Winkeln geblieben waren, ihn verstehen konnten. »Wenn Ihr mich nicht beherbergen wollt, werde ich weiterziehen, jedoch komme ich mit guten Absichten. Und ich wäre Euch dankbar für Informationen darüber, was Euch Sorgen bereitet.«
Der Widerstand der Frau bröckelte. Schließlich nickte sie.
»Kommt herein, Mylord. Ihr könnt Euch … an unserem Feuer wärmen. Ich bin Lenka.« Sie rief nach zwei Frauen, die zu ihr traten. »Geht und bereitet ein Bett für – für unseren Gast.«
Varcas wusste, sich nicht vorzustellen, war nicht höflich und entsprach nicht dem Protokoll, dem der Albenadel meist folgte. Aber seinen echten Namen zu nennen kam für ihn nicht infrage – und anlügen wollte er die Heilerin nicht. Sie hatte ihn als Seher identifiziert, hatte auch gefühlt, dass seine Rún eine mächtigere Farbe aufweisen musste als die ihre – und sie hatte eindeutig Angst, trotz aller Stärke, die sie beweisen wollte. Der Mann, der zuerst mit ihm gesprochen hatte, kam näher, um Grani zu einem kleinen Unterstand zu führen.
Varcas konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als der Erdalb das Pferd staunend musterte. Es sah nicht viel anders als ein gewöhnliches Pferd aus – aber es hatte etwas an sich, die Augen mit den geschlitzten Pupillen, die das Kelpieblut verrieten.
Varcas näherte sich dem Langhaus zusammen mit Lenka.
»Ihr seid die Dorfheilerin?«, versuchte er den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. Er erkannte ein Schutzzeichen eines Wächters in das Holz der Langhaustür geritzt. Er selbst kannte das Aussehen einiger Schutzzeichen, obwohl er sie selbst als Seher nicht verwendete. Mit einem Stirnrunzeln registrierte er, dass dieses hier mit einer mahrischen Waffe verletzt worden war.
Sie nickte. »Und die Frau des Eldermanns.«
»Ich würde mich sehr gern mit ihm unterhalten. Wo ist er?«, fragte Varcas.
Lenka öffnete die Tür, und Varcas hielt inne, als seine Sinne von den Reizen des Inneren überflutet wurden.
Aus leeren Augenhöhlen starrte ihn ein Erdalb an, mit Seilen und Nägeln an das Holzgeländer der oberen Galerie des Langhauses geschlagen.
»Das dort«, flüsterte Lenka mit erstickter Stimme, »ist der Eldermann.«
Eine Elster schrie.
Sie war zu Hause.
Einmal, vor fünf oder sechs Monaten, hatte sie einen verletzten Vogel gefunden. Die wilde Elster hatte einen gebrochenen Flügel, den sie wie einen glänzenden, schwarzweißen Fächer hinter sich herzog, während sie verzweifelt durch den Garten hüpfte. Lyraine war damals vorsichtig näher getreten.
Sie wollte sie zu fassen bekommen, aber die Angst, dem verwundeten Tier noch mehr Schmerzen zuzufügen, hielt sie kostbare Minuten zurück, bis die Elster so erschöpft von ihren Versuchen war, dass sie ruhig sitzen blieb. Sie schlich sich Schritt um Schritt näher an sie heran, und als sie angekommen war, ließ sie sich ohne größere Mühe sanft umfassen.
Es hatte nicht lange gedauert, ihr zu helfen. Für zwei, drei Wochen war die Elster ein Gast in Amber Hall gewesen. Nachmittags saß der Vogel auf der Terrasse hinter dem Haus und ließ sich die beginnende Sommersonne auf die Schwingen scheinen. Dann fing sie an, kurze Probeflüge zu unternehmen. Als sie schließlich ganz davonflog, war Lyraine traurig gewesen.
Allerdings nur bis zum nächsten Morgen, als sie feststellte, dass die Elster zu ihrem Fenster zurückgekehrt war und sie mit ihren vertrauten Krächzlauten weckte.
Eine Elster schrie.
Lyraine öffnete die Augen.
Einen wunderbaren, köstlichen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war. Dann kam die Erinnerung zurück, und Lyraine schloss die Augen wieder. Doch viel zu schnell wurde ihr bewusst, dass jetzt, da sie einmal zugelassen hatte, dass die durch die Baumwipfel blitzenden Wellen des Sonnenlichts den Schlaf aus ihrem Verstand spülten, würde sie nicht wieder an den tröstlichen Ort zurückkehren können, an dem eine Elster vor ihrem Fenster in Amber Hall wartete. Hatte sie es gesehen oder bildete sie sich nur ein, sich daran zu erinnern, wie sich drehende Flammen die Scherben aus den Rahmen gedrückt hatten, bis sie zerbarsten, und in einem Regen aus Splittern zu Boden rieselten?
Lyraine hörte jemanden atmen.
Gorwyn, erinnerte sie sich, Gorwyn hatte sie unter dem Bett hervorgezogen. Sie hatte losgelassen und er hatte sie hervorgezogen.
Eine Hand – Gorwyns Hand, korrigierte sie sich – legte sich tastend auf ihre Stirn, dann auf ihren Scheitel.
Mit untrüglicher Gewissheit war Lyraine bewusst, dass Gorwyn wissen musste, dass sie erwacht war. Sich schlafend zu stellen funktionierte auch nicht bei der alten Tovilda, und die war mehr Mensch als Alb. Meistens schwatzte sie morgens mit so einer Eifrigkeit los, dass es völlig unmöglich war, wieder ins Reich der Träume hinüber zu gleiten. Gorwyn hingegen war still.
Kurzentschlossen öffnete Lyraine die Augen und setzte sich auf.
Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, zu sehen.
Gorwyn saß neben ihr, an einen Baum gelehnt. Er hatte ein Bein weit von sich gestreckt, das andere angewinkelt. Erst jetzt begriff sie, dass sie auf seinem ausgestreckten Unterarm und auf Zisch gelegen hatte. Er hatte seine Jacke über ihr ausgebreitet, aber nicht nur die Luft war kalt, sondern auch der Boden. Sie fröstelte. Ein paar Schritte abseits graste eins der Pferde des Hofes. Es war zu groß für sie, das hatte Brandon gesagt. Zumindest, wenn sie es allein reiten wollte.
Lyraine kannte die kleine Lichtung. Sie waren nur wenige Meilen vom Anwesen entfernt.
Der Truchsess sah sie an. Er war schon ziemlich alt – wie alt, traute Lyraine sich nie, ihn zu fragen – aber sie hatte ihn noch nie so erschöpft gesehen. Als Erdalb hatte er eine bräunliche, fast bronzefarbene Haut, und auch die Hörner, die durch das sauber geschnittene weiße Haar hervorschauten, sahen aus wie Walnussholz.
Lyraine atmete ein. Das Gefühl war zu gewaltig, als dass sie es für sich selbst hätte in Worte fassen können. Es schien ihr, als würde ein Schleier aus Nebelseide der einzige verbleibende Schutz vor all den Gedanken sein, die sie tief in sich verschlossen hatte.
Und als der Truchsess seine Hand ausstreckte und sie an ihre Wange legte, wusste sie, dass sie nie wieder den Ruf der Elstern an ihre Fenster hören würde. Sie wusste, dass alles, woran sie sich zu erinnern glaubte, der Wahrheit entsprach.
»Es tut mir so leid.«
Es vergingen mehrere Sekunden, bis Lyraine verstand, dass Gorwyn sie angesprochen hatte, sie und niemanden sonst. Niemand sonst ist hier, schalt sie sich selbst. Niemand sonst. Sie waren allein.
Panik schlang sich um ihren Hals, um ihre Rippen, drückte ihr die Luft aus den Lungen. Sie konnte nicht sitzen bleiben, wo sie war. Wenn sie hier sitzen blieb, dann würde sie in die traurigen Augen des Truchsess schauen müssen. Sie würde ihm zuhören müssen, wie er davon sprach, wie leid es ihm tat.
Gorwyn griff mit einer Geschwindigkeit nach ihrem Arm, die sie ihm fast nicht zugetraut hätte.
»Kind«, er schüttelte den Kopf, »du darfst nicht weglaufen. Es ist nicht sicher.«
Читать дальше