„Hallo!“ sagte Matty atemlos.
„Hallo“, erwiderte ich. „Reitest du spazieren?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich muß ins Dorf und dem Hufschmied Bescheid sagen, daß er heute vorbeikommen soll. Emily hat ein Hufeisen verloren.“
„Hat er denn kein Telefon?“ fragte ich erstaunt.
Matty sah mich ebenso erstaunt an. „Nein, warum denn? Ohne geht’s doch auch! Aber du kommst natürlich aus der Stadt, da denkt man wohl, ohne Telefon geht die Welt unter!“
„Quatsch“, sagte ich etwas gereizt. „Aber praktisch ist es, das wirst du wohl zugeben?“
Er sagte friedlich: „Ja, schon. Hör mal, Nell, ich bin in spätestens zehn Minuten wieder da. Wenn du auf mich wartest, können wir gemeinsam zurückreiten.“
„Reiten?“ wiederholte ich und sah zweifelnd auf das große Pferd. „Ich weiß nicht recht. Wahrscheinlich komme ich gar nicht erst rauf, und überhaupt . . .“
Matty lachte. „Hochstemmen kann ich dich schon“, sagte er. „Aber wir müssen ja nicht unbedingt reiten. Zwei Leute wären sowieso zu viel für Hazel. Sie hat nämlich etwas schwache Fesselgelenke.“
Hazel senkte den Kopf, als hätte sie verstanden, was Matty gesagt hatte, streckte die Nase vor und schnupperte an meinen Haaren. Ich blieb ganz still stehen und ließ es über mich ergehen, doch mein Herz klopfte schneller als sonst.
„Keine Angst“, sagte Matty. „Hazel hat noch keiner Seele was zuleide getan.“
Die Stute blies in mein Haar, und ich atmete den herben, aber angenehmen Pferdegeruch ein. Dann zog sie den Kopf zurück und sah mich mit ihren sanften braunen Augen aufmerksam an.
„Wir können ja zusammen zurückgehen“, schlug Matty vor. „Hazel ist froh, wenn sie niemanden auf ihrem Rücken herumschleppen muß, was, Hazel?“
Die Stute schnaubte leise und schüttelte ungeduldig den Kopf, um ein paar Fliegen zu verscheuchen. Ich trat unwillkürlich einen Schritt zurück und sagte: „Also, dann warte ich auf dich.“
„Prima.“ Matty lenkte Hazel zur Mitte der Straße, und sie trabte in Richtung zum Dorf davon. Während ich den beiden nachsah, dachte ich, daß Matty ein netter Kerl war, netter als alle Jungen in meiner Klasse; auch wenn er noch ziemlich jung war und nicht so gut aussah wie sein Bruder.
Nach etwa zehn Minuten war er wirklich wieder da, schwang sich aus dem Sattel und ließ Hazel auf der Wiese frei. Sie trottete mit schleifenden Zügeln neben uns her, graste ab und zu zufrieden und sah immer wieder zu uns herüber, als wollte sie sich vergewissern, ob Matty noch da war.
„Hazel ist so anhänglich“, erklärte Matty. „Ich habe sie selbst zugeritten. Sie war immer schon lammfromm und hat mich nie abgeworfen.“
„Werdet ihr sie eines Tages verkaufen?“ fragte ich.
Sein Gesicht wirkte plötzlich verschlossen. „Ich weiß nicht“, sagte er. „Das liegt bei meinem Vater. Die Pferde gehören ja alle ihm.“
Ich sah ihn von der Seite an. Eine Weile schwiegen wir. Dann fragte ich vorsichtig: „Verstehst du dich nicht gut mit deinem Vater?“
„Ach, er ist ziemlich schwierig. Aber ich kann’s ihm wohl nicht vorwerfen.“
Ich merkte, daß er im Augenblick nicht mehr darüber sagen wollte, und stellte keine weiteren Fragen. Dann dachte ich, daß ich wirklich einmal gern jemanden kennengelernt hätte, der keine Schwierigkeiten mit seinem Vater oder seiner Mutter oder mit beiden Eltern hatte. Abgesehen von Erwachsenen natürlich, aber selbst die schienen oft noch Probleme mit ihren Eltern zu haben. Ich hatte geglaubt, eine rühmliche Ausnahme zu sein, denn bisher hatte ich mich gut mit meinem Vater verstanden und war stolz darauf gewesen, daß wir so gute Freunde waren. Doch das war jetzt wohl ein für allemal vorbei . . .
„Zum Teufel!“ sagte ich unwillkürlich.
Matty nickte, als wüßte er, in welche Richtung meine Gedanken gingen. „Man müßte erwachsen und unabhängig sein“, sagte er bitter.
„Wenn man erwachsen ist, ist man deswegen noch lange nicht unabhängig“, erwiderte ich.
Matty lachte, aber besonders froh wirkte er nicht dabei. „Das klingt verdammt weise“, sagte er. „Aber du hast schon recht. Um unabhängig zu sein, braucht man Geld.“
Ich murmelte: „Ja, Geld – wenn ich jetzt Geld hätte, würde ich sofort verschwinden. Nach Amsterdam vielleicht, das ist eine wunderbare Stadt.“
„Oh, ich würde schon hierbleiben“, erwiderte Matty. „Ich würde meinem Vater das Gut und die Pferde abkaufen. Dann könnten sie frei leben und hätten es gut bei mir.“
„Haben sie es denn nicht gut bei deinem Vater?“
„Er behandelt sie nicht schlecht, das ist es nicht. Er hängt zwar auch an ihnen, aber ich glaube, er liebt sie nicht so wie Jörn und ich. Für ihn sind sie mehr eine Art Ware, weißt du, die man möglichst gewinnbringend verkauft. Etwas, das man abstoßen muß, wenn es sich nicht mehr rentiert.“
Der Weg führte nun wieder dicht am Wildbach vorbei, und wir warteten, während Hazel an eine seichte Uferstelle ging, sich vorsichtig einen Weg zwischen dem Geröll bahnte und von dem klaren Wasser trank. Es war ein schönes Bild, fast wie ein Gemälde – die haselnußbraune Stute am Bach, die Sonne auf dem Wasser und im Hintergrund die Felsen zwischen den Tannen.
„Rentiert es sich denn?“ fragte ich.
Matty schwieg eine Weile. Dann schüttelte er den Kopf und wandte sich wieder zum Gehen. Ich folgte ihm. Hinter uns erklang das leichte Getrappel von Hazels Hufen auf dem steinigen Pfad.
„Eben nicht“, sagte er nach einiger Zeit. „Es lohnt sich nicht. Deshalb überlegt Vater ja auch immer wieder, ob er die Pferde und vielleicht auch einen Teil unseres Grundstücks verkaufen soll. Er sagt, dann könnten wir bequem und sorgenfrei leben.“
Er schwieg wieder und senkte den Kopf. Die Sache war schlimm für ihn, das spürte ich. „Und deine Mutter? Was sagt sie dazu?“
„Meine Mutter? Die hat keine eigene Meinung“, erwiderte er. „Von ihr kann man keine Unterstützung erwarten. Ich glaube, sie hat Angst vor Vater.“
Matty vergrub die Hände in den Hosentaschen und ging rascher vorwärts. Ich müßte mich beeilen, um ihn einzuholen. Nach einigen Minuten sagte er fast schroff: „Aber was kümmert dich das? Du hast sicher andere Sorgen. Ich will dir nicht die Ohren volljammern.“
„Du jammerst mir nicht die Ohren voll“, sagte ich. „Manchmal tut’s einem gut, wenn man jemandem etwas erzählen kann, den man kaum kennt – einem Außenstehenden, meine ich. Und das bin ich ja auch – eine Außenstehende.“
Und voller Bitterkeit dachte ich, daß das wirklich stimmte. Ich war eine Außenstehende. Das war gegenwärtig genau meine Stellung in der Welt.
Matty nickte und sagte: „Vielleicht hast du recht. Aber dann kannst du mir doch eigentlich auch von dir erzählen. Für dich bin ich schließlich auch ein Außenstehender, wie du das nennst.“
„Ich weiß nicht“, erwiderte ich zögernd. „Immerhin kennst du Kirsty.“
„Und du meinst, deshalb wäre ich voreingenommen?“
„Vielleicht“, sagte ich.
„Kirsty ist in Ordnung“, sagte Matty. „Aber so gut kenne ich sie gar nicht, wie du vielleicht glaubst. Bei ihrer Tante Karen sind wir oft gewesen, als wir noch Kinder waren. Sie hat da ziemlich allein gelebt, aber es war ihr offenbar ganz recht so.“ Er sah mich von der Seite an. „Und Kirsty . . . kommst du nicht gut mit ihr aus?“
„Ich mag sie nicht“, sagte ich heftig.
Matty nickte wieder. „Sind deine Eltern geschieden?“
„Nein“, sagte ich kurz. „Meine Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben.“
„Oh!“ Er fragte: „Und jetzt hat dein Vater Kirsty kennengelernt? Glaubst du, daß die beiden heiraten werden?“
„Vielleicht“, sagte ich. „Meinetwegen sollen sie es tun. Sie können machen, was sie wollen. Es kümmert mich nicht.“
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