Ich dachte, daß ich hier, wo ich es am wenigsten erwartet hatte, zwei Menschen kennengelernt hatte, die mich interessierten und die ich gern zu Freunden gehabt hätte. Dafür habe ich meinen Vater verloren! ging es mir durch den Sinn, und ein bitteres Gefühl stieg in mir auf.
Ich mochte nicht länger am Fenster stehen. Schaudernd zog ich mich aus und kroch unter die Bettdecke. Eine Weile lag ich da und zitterte, doch nicht nur vor Kälte. Ich versuchte einzuschlafen, aber es ging nicht. Ich versuchte an etwas Angenehmes zu denken – daran, daß ich morgen mit Jörn und Matty im Stall arbeiten würde, daß ich hier vielleicht sogar anfangen konnte, reiten zu lernen; doch es nützte nichts. Ich war traurig, und nichts konnte mich darüber hinwegtäuschen, daß ich allein war, und daß mein Vater mit Kirsty dort unten in der Küche saß und vor Glück und Verliebtheit fast platzte.
Zwei Stunden später lag ich noch immer wach. Meine Füße waren wie Eisklötze. Ich dachte sehnsüchtig an meine Mutter, die mir heiße Milch und Honig gebracht hatte, wenn ich als Kind nicht einschlafen konnte.
In der Küche war noch ein Rest Milch vom Frühstück, Honig hatten wir von zu Hause mitgebracht. Ich stand auf, schlüpfte in den Morgenmantel, zündete die Kerze an und nahm sie mit ins Treppenhaus.
Ich nahm fest an, daß Vater und Kirsty längst zu Bett gegangen waren; als ich jedoch in die Nähe der Küche kam, drang Lichtschimmer durch die Türritzen, und ich hörte gedämpfte Stimmen.
Unwillkürlich blieb ich stehen. Ich hatte keine Lust, in die Küche zu gehen, wie ein Kind nach heißer Milch mit Honig zu verlangen und zuzugeben, daß ich nicht schlafen konnte. Schon wollte ich wieder umkehren, da hörte ich ganz deutlich die Stimme meines Vaters: „ . . . daß Elinor dir gegenüber so unfreundlich ist!“
Die erste Hälfte des Satzes hatte ich nicht verstanden, aber ich konnte mir denken, daß er sich für mich entschuldigte.
Ich hielt mitten in der Bewegung inne. Eigentlich wollte ich nicht lauschen; ich verachte neugierige Leute. Diesmal aber mußte ich einfach bleiben und wissen, was sie sagten. Irgend etwas zwang mich, ihre Unterhaltung mit anzuhören.
„Laß nur, ich verstehe sie“, erwiderte Kirstys helle, ein wenig brüchige Stimme.
Sie verstand mich . . . Wenn ich das schon hörte! Ich wollte ihr Verständnis nicht, es konnte mir gestohlen bleiben!
„Ich bin doch ein Eindringling für sie“, fuhr sie fort. „Sie denkt, daß ich dich ihr wegnehme. Und irgendwie ist es ja auch wirklich so.“ Sie stockte. „Es ist sehr schwer, zu teilen, wenn man nur einen Menschen auf der Welt hat, zu dem man gehört.“
Mein Vater erwiderte aufgebracht: „Aber ich kann doch ihretwegen nicht meine besten Jahre wie ein Einsiedler verbringen! In ein paar Jahren wird sie vielleicht schon aus dem Haus gehen und ihr eigenes Leben führen. Ich habe doch auch ein Recht auf ein bißchen Glück und Zärtlichkeit! Warum gönnt sie es mir nicht, daß ich glücklich bin? Sie müßte froh sein, daß ich eine Frau wie dich gefunden habe.“
Ich wagte kaum zu atmen. So also sah er die Sache; das war sein Standpunkt. Ein Teil von mir begriff, daß er recht hatte, aber die Bitterkeit und das Gefühl von Zurücksetzung blieben. Vater brauchte eine Frau, um glücklich zu sein. Er brauchte Kirsty.
Kirsty sagte sanft: „Natürlich hast du ein Recht darauf, Richard. Aber die Sache hat zwei Seiten, und für deine Tochter sieht alles ganz anders aus. Ich habe es doch selbst erlebt, wenn auch umgekehrt. Ich lebte bei meiner Mutter, und als sie Jahre nach ihrer Scheidung wieder eine Beziehung zu einem Mann aufnahm, fühlte ich mich zurüekgestoßen und vernachlässigt. Es war eine bittere Erfahrung, die mir jahrelang schwer zu schaffen gemacht hat. Deshalb verstehe ich Elinor so gut.“
Erst jetzt merkte ich, daß heißes Wachs auf meine Hand tropfte, weil ich die Kerze schief hielt. Leise drehte ich mich um und ging wieder die Treppe hinauf. Ich hatte genug gehört. Mein eigener Vater war gegen mich, und die Frau, die ich für meine Feindin hielt, verteidigte mich noch. So erschien es mir jedenfalls in dieser Nacht.
Kirstys Lebensgeschichte interessierte mich nicht weiter. Ich wollte ihr Verständnis und Mitgefühl nicht. Alles, was ich wollte, war, daß sie meinen Vater in Ruhe ließ, damit wir wieder leben konnten wie zuvor. Doch zugleich wußte ich auch, daß es nie wieder so werden konnte wie früher.
Gegen Mitternacht schlief ich dann doch ein, und als ich in der Morgendämmerung erwachte, sah alles nicht mehr ganz so schlimm aus. Zwar war ich Vater und Kirsty gegenüber keinen Deut versöhnlicher gestimmt, doch ich war fest entschlossen, in Zukunft meine eigenen Wege zu gehen.
Diesen Vorsatz führte ich auch sofort aus, indem ich früher als sonst aufstand, um ins Dorf zu gehen. Im Haus war alles still, und in der Küche waren noch die Vorhänge zugezogen. Ich schrieb auf einen Zettel Bin gegen Mittag zurück, legte ihn auf den Tisch, nahm meine Jacke vom Garderobenhaken und verließ das Haus.
Der Himmel war milchig blau mit einem Schleier von Dunst, doch aus den Wiesen stieg Feuchtigkeit auf, und ich fröstelte in der kalten Morgenluft. Meine Ballerinaschuhe mit den dünnen Sohlen waren nicht gerade die passende Fußbekleidung für einen ländlichen Spaziergang. Ich spürte jeden Stein auf der unbefestigten Straße, und als ich versuchte, im Gras zu gehen, war das dünne Leder im Nu durchnäßt.
Der Weg zum Dorf, der mir mit dem Auto so kurz erschienen war, zog sich endlos lange hin. Als ich nach mehr als einer Dreiviertelstunde den Hügel mit der Dorfkirche in der Ferne auftauchen sah, war ich erleichtert. Kühe starrten mich über einen Weidenzaun hinweg mit friedlicher Neugier an, und ein stattlicher Misthaufen war der erste Vorbote des Dorfes. Eine Schar Hühner kratzte gackernd darauf herum, ein alter Bauer arbeitete in einem Gemüsegarten hinter einem Holzhaus und musterte mich prüfend, und über die Dorfstraße kurvten Kinder mit ihren Fahrrädern.
Ich ging in den Lebensmittelladen, kaufte Milch, Semmeln, ein Stück Käse und zwei Äpfel und setzte mich auf eine Bank am Fuß des Kirchbergs. Dort frühstückte ich in der Morgensonne. Eine Katze saß nicht weit von mir auf einem Zaunpfosten, kniff die Augen zusammen und sonnte sich wie ich, und im Gras unter den Fliederbüschen blühten die ersten Veilchen.
Vom Kirchturm schlug es neun, als ich schließlich aufstand und durchs Dorf ging. Allzu viel gab es da nicht zu sehen – ein großes Haus mit grüngestrichenem Spalier, das offenbar die Schule war, der Pfarrhof am Kirchberg, neben der Dorfstraße ein Wirtshaus mit Kastanien, die gerade erst ausschlugen, den Lebensmittelladen, eine alte Schmiede und ein paar Dutzend Häuser mit Holzbalkons, dazu Gärten, eine Ferienpension, eine Tankstelle und daneben eine Bushaltestelle. Das war alles.
Kein Kino, keine Disco, kein Schallplattenladen und keine Boutique. Nichts. Ich dachte: Wie halten es die Leute hier nur aus?
Die Menschen, die mir begegneten, musterten mich neugierig. Vermutlich waren Fremde um diese Jahreszeit eine Seltenheit. Schließlich hatte ich mir das ganze Dorf angesehen, und es war gerade erst zehn. Ich hatte überhaupt keine Lust, schon wieder zurückzugehen, aber etwas anderes fiel mir nicht ein; und mit Matty und Jörn hatte ich mich erst für fünf Uhr nachmittags verabredet.
Langsam und lustlos schlenderte ich den Weg zurück, den ich gekommen war. Als ich das letzte Bauernhaus des Dorfes hinter mir gelassen hatte und auf die Straße abbog, die am Wildbach entlang nach Dreililien führte, sah ich in der Ferne zwischen den Bäumen einen Reiter kommen.
Es war Matty. Als er mich bemerkte, lenkte er sein Pferd auf mich zu und brachte es kurz vor mir zum Halten. Ich zwang mich, stehenzubleiben und nicht zurückzuweichen, obwohl das haselnußbraune Pferd einfach riesenhaft wirkte.
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