„Was macht ihr mit all den Pferden?“ fragte ich.
„Wir züchten sie“, sagte Matty. „Hast du nicht gewußt, daß Dreililien ein Gestüt ist?“
Ich schüttelte den Kopf. Er ging von einer Box zur anderen, streichelte die Pferde und erklärte dabei: „Das dort ist Isabell. Und das Marnie. Das ist unser Deckhengst Ask; er hat schon viele Preise gewonnen. Und die kleine Schimmelstute ist Emily. Bist du eigentlich schon mal geritten, Nell?“
„Nein“, sagte ich. „Bei uns in der Stadt sind Reitstunden ziemlich teuer. Aber du reitest sicher fantastisch, wo du doch praktisch mit Pferden aufgewachsen bist.“
„Reiten kann ich ganz gut“, gab er zu. „Aber ich bin nicht so ein leidenschaftlicher Reiter wie zum Beispiel mein Bruder. Ich mag Pferde unheimlich gern, weißt du, und deshalb widerstrebt es mir immer, ihnen meinen Willen aufzuzwingen – und das muß man nun mal beim Reiten. Mir ist es am liebsten, wenn sie draußen auf der Koppel sind und tun und lassen können, was ihnen gefällt. Wenn ich viel Geld hätte, würde ich meine Pferde ganz wild und frei leben lassen; so, wie es eigentlich ihre Natur ist.“
Er schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: „Der Reitsport ist ja auch nur eine Art, wie wir Menschen Tiere benutzen, ohne zu überlegen, wie das überhaupt für sie sein mag.“
Ich sah Matty an. Seltsam, darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Daß ausgerechnet er so etwas sagte, dessen Familie Pferde züchtete, um sie dann zu verkaufen, damit sie von anderen Menschen benutzt wurden – zum Vergnügen oder um Preise zu gewinnen, also um Geld zu machen!
Ich wollte gerade etwas dazu sagen, als eine Stimme aus dem Hintergrund fragte: „Wen versuchst du da schon wieder mit deinen Hirngespinsten aufzuwiegeln, Matty?“
Ein hochgewachsener Junge kam durch eine Zwischentür geschlendert. Der gefleckte Jagdhund lief ihm entgegen und umsprang ihn voller Freude.
Ich sah sofort, daß der Junge Mattys Bruder sein mußte. Er sah ihm ähnlich, war aber um einen Kopf größer und wohl auch einige Jahre älter. Er bewegte sich mit einer lässigen Anmut, die von Selbstbewußtsein zeugte und deshalb aufreizend auf mich wirkte, einer Anmut, die zugleich aber auch etwas Anziehendes hatte. Seine blonden Haare waren länger als die von Matty und wild gelockt. Seine Jeans, die in Gummistiefeln steckten, waren voller Pferdemist.
Das alles sah ich mit einem Blick, während Matty erwiderte: „Hirngespinste! Alles, was du nicht verstehst, tust du als Verrücktheit ab, wie?“
Sein Bruder lachte. „Sei nicht gleich eingeschnappt“, sagte er. Dabei sah er mich an. „Bist du mit Kirsty gekommen?“ fragte er.
„Sozusagen“, erwiderte ich.
„Das ist Nell“, erklärte Matty. „Ihr Vater ist mit Kirsty befreundet. Sie verbringen die Osterferien im Kavaliershäusl.“
Zum erstenmal hörte ich den Ausdruck Kavaliershäusl für Tante Karens Haus. „Und ich bin der Jörn“, sagte Mattys Bruder. Wir sahen uns prüfend an, gaben uns aber nicht die Hand.
„Warum nennt ihr das Haus Kavaliershäusl?“ fragte ich; nicht so sehr, weil es mich wirklich interessierte, sondern um meine Verlegenheit zu überspielen.
„Weil es mal zum Hof gehört hat“, erklärte Jörn. Er war überhaupt nicht verlegen. „Dreililien war früher mal so was wie ein Rittergut. Das heißt, einer unserer Vorfahren hat es vom Kaiser als Belohnung für treue Dienste während eines Krieges bekommen. Und in dem Haus, das Karen gehörte, lebte vor ewigen Zeiten ein verarmter Adeliger, der bei unserem Ur-Urgroßvater im Dienst stand. Seitdem heißt es Kavaliershäusl.“
„Seid ihr auch adelig?“ fragte ich. „Ich meine, wenn eure Familie ein Rittergut bekommen hat!“
Matty schüttelte den Kopf und erwiderte: „Nein. Unser Ur-Urgroßvater hat damals zwar auch einen Titel verliehen bekommen, aber der wurde nicht weitervererbt. Wir heißen schlicht und einfach Moberg.“ Er machte eine komische Verbeugung.
Jörn bückte sich, um den Jagdhund zu streicheln, der noch immer begeistert an ihm hochsprang.
„Ist ja schon gut, Diana“, sagte er. „Bist ein braves Mädchen.“
Ein Pferd wieherte schrill, ein anderes schlug mit den Hufen gegen die Boxwand, daß es nur so knallte. Matty sagte: „Sie möchten raus aus dem Stall. Morgen dürfen sie wieder auf die Koppel. Das Barometer ist gestiegen, und morgen soll’s einigermaßen warm werden – endlich. So ein verregnetes Frühjahr haben wir schon lange nicht mehr gehabt.“
„Zeit zum Stallausmisten“, sagte Jörn und warf mir einen spöttischen Seitenblick zu. „Bist du gekommen, um uns zu helfen, oder wie sehe ich das?“
Ich merkte, daß ich rot wurde. Bei der Stallarbeit mithelfen – warum eigentlich nicht? Aber dazu brauchte ich eine ältere Hose, und der weiße Pullover, den ich trug, war wohl auch nicht gerade das richtige Kleidungsstück für eine solche Gelegenheit.
Ehe ich eine passende Antwort finden konnte, mischte sich Matty ein. „Ich wollte Nell die Pferde zeigen“, sagte er. „Zum Arbeiten habe ich sie nicht eingeladen.“
Ich lachte. „Mir fällt durchaus keine Perle aus der Krone, wenn ich euch helfe“, erwiderte ich.
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, daß Jörn mich erstaunt musterte. Offenbar hatte er mich nur aufziehen wollen und überhaupt nicht damit gerechnet, daß ich seinen Vorschlag ernst nehmen könnte. „Ich bin nur nicht ganz passend angezogen“, fügte ich hinzu. „Ist es euch recht, wenn ich morgen wiederkomme und mithelfe?“
Matty sah mich fast respektvoll an, und Jörn erwiderte nur: „Warum nicht, wenn du magst? Jede Hilfe wird dankend angenommen. Eine alte Latzhose kannst du von uns bekommen, wenn du keine Arbeitskleidung mitgebracht hast.“
„Hab ich wirklich nicht“, gab ich zu.
Ich hatte ja gedacht, daß dies ein langweiliger Urlaub werden würde, in dem nichts passierte; vierzehn Tage, die ich damit zubringen mußte, die Zeit totzuschlagen! Hier aber gab es offenbar jede Menge zu tun. Ich konnte mich nützlich machen, wie es so schön heißt.
Im Augenblick wußte ich allerdings nicht, ob ich aus Langeweile so bereitwillig meine Hilfe anbot, oder weil es mich reizte, diesem Jörn zu zeigen, daß er sich irrte, wenn er mich für ein zimperliches, verwöhntes Stadtmädchen hielt.
Abends erwähnte ich nichts davon, daß ich Jörn und Matty kennengelernt hatte und im Stall von Dreililien gewesen war, obwohl mein Vater mehrmals fragte, wie ich denn den Tag verbracht hätte. Kirsty stellte überhaupt keine Fragen. Sie verhielt sich zurückhaltend, war dabei aber doch freundlich zu mir. Mir wäre es lieber gewesen, sie hätte sich abscheulich benommen und mir damit einen weiteren Grund gegeben, sie nicht zu mögen.
Sie versuchte jedenfalls nicht, sich anzubiedern, und Vater war so glücklich, daß ihm nicht einmal mein mürrisches, abweisendes Verhalten etwas auszumachen schien. Er hatte selbst gekocht – ein indonesisches Gericht mit unaussprechlichem Namen, der Teufel mochte wissen, woher er die Gewürze hatte! – und strahlte, als er sah, daß es Kirsty schmeckte. Im Ofen prasselten die Holzscheite, die sie zusammen aus dem Wald geholt hatten, und hinter den Fenstern schwankten die kahlen Äste der Eiche im Abendwind. Herr Alois lag auf dem Teppich vor dem Ofen, die Schnauze auf den Vorderpfoten, und schnarchte leise.
Nach einer Weile holte Kirsty ihre Gitarre, die sie mitgebracht hatte. Sie setzte sich neben meinen Vater auf die Eckbank und begann eine Melodie zu spielen, die ich nicht kannte.
Vater ließ sie nicht aus den Augen; er sah sie an wie ein Wesen von einem anderen Stern. Da hatte ich genug. Ich stand auf, murmelte etwas und ging ins Mansardenzimmer hinauf.
In dem Räum mit den schrägen Wänden war es kalt. Die Fensterflügel standen noch weit offen. Ich lehnte mich mit den Armen aufs Fensterbrett und sah in die Dunkelheit. Ein paar Lichtpunkte zeigten an, wo Dreililien war. Ein Ast ächzte leise und klagend. Der Mond stand über dem Wald, und der Wind trüg den Geruch von Stall und Pferden zu mir herüber.
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