»Sie kam wieder zu Bewußtsein und hat sich gewehrt«, schlug Therkelsen vor. »Und dann ist er in Panik geraten.«
Høyer schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaube nicht, dass sie sich gewehrt hat. Es sieht aus, als hätte sie ziemlich regungslos dagelegen, als sie die Schläge bekam. Deshalb glaube ich nicht, dass sie bei Bewusstsein war. Das hoffe ich jedenfalls. Vielleicht entdeckte er nur, dass sie noch atmete, falls sie das wirklich tat, es wäre ja auch möglich, dass er nur entdeckte, dass die Schnur sich gelöst hatte, wer weiß?«
»Das würde bedeuten, sie war vielleicht auf dem Wege, die Sache zu überleben«, überlegte Therkelsen. »Ich meine, falls sie noch am Leben war, nachdem er versucht hatte, sie zu erwürgen. Das macht die Sache ja fast noch schlimmer.«
»Sicher ist das aber auch nicht«, erwiderte Høyer. »Vielleicht hat sich der Knoten erst gelöst, als er sie über den Waldboden geschleift hat.« Er sah sich um. »Aber ich glaube tatsächlich, dass sie dabei war, das Bewusstsein wiederzuerlangen«, fügte er dann hinzu. »Oder dass der Kerl das zumindest geglaubt hat. Denn es deutet alles darauf hin, dass er in Panik geraten ist. Das erklärt auch, warum er ihre Kleider liegen gelassen hat, anstatt sie auch hinter dem Holzstapel zu verstecken.«
»Du meinst, dass er es vergessen hat?«, fragte Therkelsen.
»Ja, schlicht und ergreifend. Der Plan war, sowohl sie als auch ihre Kleider hinter dem Holzstapel zu verstecken, aber dann ist irgendetwas passiert.«
»Das war kein besonders gutes Versteck«, meinte Therkelsen.
»Nein, aber man hätte ohne weiteres auf dem Weg vorbeigehen können, ohne sie zu sehen, wenn sie ganz dahinter geschleppt worden wäre, und so war es wohl gedacht.«
»Er hat sich ja nie besondere Mühe gegeben, sie zu verstecken«, sagte Therkelsen.
»Wenn es wirklich der Gleiche war«, wandte Høyer ein. »Das wissen wir ja noch nicht und unabhängig davon, was wir denken oder glauben, ist das hier ein vollkommen neuer Fall, bei dem wir ohne vorgefasste Meinungen ganz von vorne anfangen müssen.«
»Bei null, meinst du.« Therkelsen zog eine Grimasse. »Ja, nichts leichter als das, denn da stehen wir ja auch im vorigen Fall.«
»Vielleicht haben wir ja diesmal mehr Glück«, meinte Høyer. »Das müssen wir verdammt noch mal auch.«
Sie blieben eine Weile stumm und sahen sich um.
Im Grunde war es hier schön.
Auf dem Waldboden wuchsen noch immer ein paar hohe Anemonen und der Waldmeister hatte begonnen zu blühen, aber Høyer und Therkelsen bemerkten es kaum. Sie standen jeder für sich in Gedanken versunken da.
Dieses Waldstück würde für lange Zeit verdorben sein, dachte Høyer. Jedenfalls für die Menschen, die normalerweise hierher kamen. Die Kinder würden Angst davor haben, hier zu spielen, die jungen Paare würden keine Lust verspüren, hier zu schmusen, dem Ort würde vielleicht für die Dauer eines Menschenalters etwas Unheimliches anhaften, auch wenn der Wald sich kein bisschen verändert hatte.
Er riss sich mit einem Ruck zusammen. »Gut, es bringt ja nichts, hier nur rumzustehen«, sagte er. »Den Rest können wir der technischen Abteilung überlassen. Ich sollte lieber zusehen, dass ich mit den Kindern rede, die sie gefunden haben, bevor sie zu viel Zeit hatten, darüber zu reden und nachzudenken. Währenddessen kannst du mit Larsen und Bach anfangen, die Leute abzuklappern. Zum einen die Leute hier in der Gegend, zum anderen die Jugendlichen, die auf dem Fest waren. Wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben, dass es ausnahmsweise einmal jemanden gibt, der etwas gesehen hat.«
Høyer fand die drei kleinen Indianer auf dem Bauernhof auf der anderen Seite des Waldstücks, dort, wo der Feldweg endete. Drei sehr kleine und sehr nasse Indianer in leuchtend gelben Regenjacken und mit schlaffen Federn im Haar.
Als er auftauchte, sahen sie ihn halb ängstlich und halb erwartungsvoll an.
»Hallo«, sagte Høyer und ging auf sie zu. »Na, ihr spielt wohl Indianer.«
Sie nickten stumm.
»Wohnt ihr alle drei hier?«
»Nein, nur ich«, antwortete der älteste von ihnen. »Bist du Arzt?«
»Nein«, sagte Høyer. »Ich bin Polizist.«
»Warum das denn?«, fragte der Junge.
Høyer zögerte einen Moment. Dann begriff er, dass sich der Junge fragte, warum ein Polizist kam und kein Arzt.
»Birthe ist ein Unglück zugestoßen«, sagte er. »Dann muss die Polizei immer untersuchen, was passiert ist.«
Die Kinder schienen sich mit dieser Antwort zufrieden zu geben.
»Wer von euch hat sie gefunden?«, fragte Høyer.
»Wir alle«, erwiderte der große Junge. »Wir kamen angeschlichen und bums! Da lag sie. Sie war richtig krank. Sie war überall voller Kotze.«
Die beiden anderen nickten ernst.
Gott sei Dank!, dachte Høyer. Sie hatten sich offensichtlich eine Erklärung für das zurechtgelegt, was sie gesehen hatten. Sie hatten es sich nicht erklären können, aber es musste einen Namen haben, also hatte sie gebrochen. Was das war, wussten sie. Sie würden hoffentlich vergessen, was sie in Wirklichkeit im Wald gesehen hatten.
»Wir konnten aber nicht erkennen, dass es Birthe war«, sagte der Große. »Wir konnten nur sehen, dass es ein Mädchen war.«
Høyer nickte. Es schien sie nicht besonders beeindruckt zu haben, dass das Mädchen fast nackt gewesen war. Vor zwanzig, dreißig Jahren hätte sie das sicherlich noch schockiert.
»Ihr habt im Wald nicht zufällig etwas gefunden«, fragte er. »Etwas, das ihr aufgesammelt habt. Indianer finden doch andauernd was.«
Sie schüttelten den Kopf.
»Aber ich habe ein Auto gesehen«, sagte der Kleinste und betonte dabei ein . Høyer vermutete, dass er dies tat, weil jetzt so viele Autos am Waldrand standen.
»Tatsächlich«, sagte Høyer. »Wann war das?«
»Heute Nacht«, antwortete der Junge.
Høyer sah ihn skeptisch an. Wenn da mal nicht die Fantasie mit dem Jungen durchging. Er fand bestimmt, dass es an der Zeit war, ein wenig auf sich aufmerksam zu machen.
»Wann genau heute Nacht war das?«, fragte er.
Der Kleine dachte nach. »Als es ein bisschen hell und ein bisschen dunkel war«, sagte er schließlich.
»Du meinst gestern Abend, nicht wahr?«, sagte Høyer. »Als du ins Bett musstest?«
»Nein, diese Nacht«, antwortete der Junge. »Als es schon dunkel gewesen war.«
»Wie alt bist du?«, fragte Høyer.
»Sechseinhalb«, antwortete der Junge.
»Bist du nachts oft auf?«, fragte Høyer.
»Ja«, sagte der Junge und nickte mit großen, überzeugenden Augen. »Jede Nacht. Ich bin jede Nacht auf.«
Høyer lächelte. Man konnte hören, worum es ging, dachte er. Aber das Mädchen, das offensichtlich die große Schwester des Kleinen war, kam ihm zu Hilfe.
»Das stimmt schon«, sagte sie. »Das ist, weil er ilektrisch Pipi macht.«
»Was macht er?«, fragte Høyer verblüfft.
»Er macht ilektrisch Pipi«, erläuterte das Mädchen geduldig. »Weil er immer ins Bett gemacht hat, und dann hat er so ein ilektrisches Ding bekommen, riiiing, wenn nur ein Tropfen kommt, und jetzt wacht er immer auf, selbst wenn es gar nicht geklingelt hat. Jede Nacht!«, fügte sie hinzu und sah ebenso überzeugend aus wie ihr Bruder.
»Dann war es also, als du schon geschlafen hattest?«, sagte Høyer zu dem ›ilektrischen‹ Indianer.
»Ja, es war ein bisschen hell und ein bisschen dunkel«, wiederholte der Junge.
Høyer dachte nach. Doch, zeitlich konnte das gut und gerne hinkommen.
»Wo stand denn das Auto?«, fragte er.
»Da hinten«, sagte der Junge und zeigte. »Wo jetzt das Polizeiauto steht.«
»Und wo wohnt ihr?«, fragte Høyer.
Das Mädchen zeigte auf das kleine Haus auf der anderen Seite des Waldstücks. »Und das Fenster der Toilette ist da oben«, sagte sie und richtete den Finger auf ein Fenster im Giebel.
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