Der Garten bot einen traurigen Anblick. Høyer konnte sich nicht erinnern, dass er je zuvor so erbärmlich ausgesehen hatte. Die tiefstgelegene Ecke hatte mehrere Wochen lang unter Wasser gestanden, was den Fliederstrauch offensichtlich das Leben gekostet hatte. Der Strauch daneben sah auch nicht gerade aus, als ginge es ihm sonderlich gut, aber er war schon älter und hatte ein größeres Wurzelwerk, so dass er vielleicht durchkam. Wenn nur der Regen endlich aufhören wollte.
Er stellte den Spaten an seinen Platz im Geräteschuppen und ging mit dem Fliederstrauch in der Hand zur Hintertür. Seine hoch gewachsene, kräftige Gestalt sah in dem regennassen, olivgrünen Regenmantel noch größer aus als sonst. Er hielt den Fliederstrauch an den Zweigen, so dass die Wurzeln bei jedem seiner Schritte vor und zurück schwenkten. Es sah beinahe so aus, als würde er den abgeschlagenen Kopf eines Trolls tragen.
Er ging in die Einmachküche und legte den Strauch ab, nachdem er sich die Gummistiefel ausgezogen, seine Hausschuhe übergestreift und den Regenmantel an die Garderobe gehängt hatte, nahm er den Strauch wieder auf und ging in die Küche, wo er ihn auf dem Tisch ablegte.
»Sieh dir das an!«, sagte er anklagend.
Seine Frau war gerade dabei, das Kaffeetablett zu decken. Sie drehte sich um und sah fragend von dem Strauch zu ihm und wieder zurück.
»Was in aller Welt macht dieses dreckige Ding auf dem sauberen Küchentisch?«, fragte sie.
»Er ist tot!«, sagte Høyer dramatisch. »Mausetot. Außerdem ist das kein Ding, sondern der Zwergflieder, den ich letzten Herbst gepflanzt habe und der so schön ausgeschlagen war. Vor ein paar Wochen noch hatte er große, feine Knospen und jetzt sieh ihn dir an!« Er hob den Strauch hoch, ließ die Finger über einen Zweig gleiten und sah zu, wie die trockenen, verschrumpelten Knospen auf den Fußboden plumpsten.
Seine Frau betrachtete die braunen Schuppen, die nun über den ganzen Küchenboden verstreut lagen. »Was ist denn mit ihm passiert?«, fragte sie.
»Ertrunken«, antwortete er. »Riech doch nur mal. Er riecht verfault. Die Erde ist faul, total verfault. Sie hat ja auch ewig lange unter Wasser gestanden. Dieses elende Mistwetter! Es ist zum Verrücktwerden. Regen, Regen, Regen!«
»Es muss aber auch bald mal aufhören«, sagte seine Frau. »Das kann doch nicht immer so weitergehen.«
»Ha!«, platzte Høyer heraus. »Das haben wir vor einer Woche auch schon gesagt und vor zwei Wochen und vor drei Wochen. Aber das kann es offenkundig doch. Jetzt verspricht uns dieser Wetterprophet auch noch, dass der Sommer genauso schlecht wird. Es kommt noch so weit, dass uns Kiemen und Schwimmhäute wachsen.«
»Die haben sich schon oft genug geirrt«, meinte seine Frau tröstend. »Warum schmeißt du den da nicht in den Mülleimer, dann können wir Kaffee trinken.«
»Ich kann es nicht ertragen, wenn etwas stirbt«, sagte er. »Etwas, für das ich die Verantwortung trage. Ich fühle mich irgendwie schuldig. Oder wie ein Versager.«
»Es ist doch wohl nicht deine Schuld, dass es regnet«, rief seine Frau zu ihm hinaus.
Høyer kam mit Handfeger und Kehrschaufel wieder zurück.
»Nein, beim besten Willen nicht«, sagte er. »Aber wenn wir nun eine Dränage gelegt hätten. Andererseits hat der Garten auch noch nie so ausgesehen und wir wohnen hier immerhin schon einige Jahre ... Aber ich hätte ihn ausgraben und umpflanzen können. Ihn vielleicht im Treibhaus einpflanzen können. Verstehst du, ich habe doch gesehen, dass er anfing, die Blätter ein wenig hängen zu lassen, ich hatte nur keine rechte Lust, was dagegen zu unternehmen, und du weißt, wie das mit Unterlassungssünden ist.« Er seufzte. »Das liegt auch an diesem verdammten Regenwetter«, ergänzte er ein wenig ungerecht.
»Hast du ihn weggeschmissen?«, fragte seine Frau.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe es nicht übers Herz gebracht. Ich denke, ich werde doch erst noch versuchen, ihn umzupflanzen. Vielleicht kommt er ja noch einmal, wenn er neue Erde bekommt, dann ...«
»Du hättest ihn genauso gut gleich wegschmeißen können«, sagte seine Frau. »Er wird dir nur Kummer bereiten. Ich glaube nicht, dass er noch einmal kommt.«
»Ich gebe ihm noch eine Chance«, erwiderte Høyer. »Es ist einen Versuch wert.«
Sie nahm das Kaffeetablett. »Das Leben ist das schlechteste nicht«, summte sie. »Denn jetzt steht der Kaffee auf dem Tisch.«
»Ha!«, sagte Høyer.
In Wirklichkeit ärgerte es ihn ein wenig, dass ihr das Wetter anscheinend nicht das Geringste ausmachte, auch wenn er wusste, dass es viel schlimmer gewesen wäre, wenn auch sie begonnen hätte, sich von ihm beeinflussen zu lassen.
Gewöhnlich machte ihm etwas Regenwetter nichts aus, aber an einem solchen langen Sonntag, an dem er außerdem noch Bereitschaft hatte und an das Haus gebunden war, fühlte er sich eingesperrt durch den Regen. Eingesperrt und isoliert. Es war, als säße man auf einer verlassenen Insel.
Aber der eigentliche Grund für seine schlechte Laune war weder das Wetter noch der Sonntag noch seine Bereitschaft. Høyer sollte Großvater werden und seine Tochter war bereits vier Tage über den errechneten Termin. Alle reagierten darauf, als sei das vollkommen normal, aber mit jedem Tag, der verging, war Høyer mehr davon überzeugt, dass da irgendetwas nicht stimmte.
»Sie hat doch nicht angerufen?«, fragte er seine Frau, während er sich einen Kaffee eingoss. Er versuchte, es wie eine beiläufige Frage klingen zu lassen, aber ihrem Lächeln konnte er entnehmen, dass sie ihn durchschaut hatte.
»Nein«, sagte sie. »Du warst aber auch nicht länger als eine Viertelstunde im Garten. Und wenn sie angerufen hätte, hätte ich dir das schon gesagt. Hier, nimm ein Stück von dem Kranz.«
»Und zu dick wird man auch noch bei diesem Wetter«, meckerte Høyer, während er ein Stück von dem Hefekranz abbiss. »Man kann im Grunde nichts anderes tun als zu essen und zu schlafen – und das Fernsehprogramm ist auch eine Katastrophe.«
Seine Frau lachte auf.
»Ja, du hast es schwer, nicht wahr? Jetzt fehlt nur noch die Regierung. Übrigens kann ich beim besten Willen nicht begreifen, was das Fernsehen mit dem Wetter zu tun hat.«
»Überhaupt nichts, aber man sitzt dann eben da und glotzt. Wenn ich in Rente gehe, ziehen wir in den Süden. Raus aus diesem Mistklima.«
»Bis dahin sind es aber noch viele Jahre«, meinte sie.
»Ich könnte mich vorzeitig pensionieren lassen. In den Vorvorruhestand gehen, und dann ziehen wir um. Was meinst du?«
»Warum nicht«, antwortete sie, so als hätte er vorgeschlagen, dass sie ins Kino gehen sollten.
Er sah sie verblüfft an. »Könntest du dir das wirklich vorstellen?«, fragte er ungläubig. »In den Süden zu ziehen?«
»Ehrlich gesagt habe ich noch nie einen Gedanken daran verschwendet«, sagte sie mit einem etwas schiefen Lächeln. »Das brauche ich auch gar nicht, denn ich weiß, dass du es dir jedenfalls nicht vorstellen können wirst, wenn es einmal so weit ist.«
»Na, na«, wandte er ein.
»Niemals«, sagte seine Frau entschieden. »Dir geht es mit diesem lächerlichen, kleinen Land ungefähr so, wie es mir mit dir geht. Ich kann mich über dich ärgern und ab und zu kann ich mir auch schon einmal wünschen, du wärst anders, aber ich könnte mir keinen anderen vorstellen als dich.«
Høyer lachte. »Das freut mich aber. Ich werde dich bei Gelegenheit daran erinnern. Und du hast sicher Recht, ich würde es bestimmt als eine Strafe empfinden, woanders zu leben als hier – Klima hin, Klima her.«
Sie stand auf. »Was hältst du davon, wenn wir uns mit einem Kognak trösten?«
»Aber nur ein Schlückchen«, sagte er. »Ich kann mich ja noch nicht einmal dem Suff hingeben, ich hab doch Dienst.«
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