»Sorgen Sie dafür, dass er seiner Frau nicht erzählt ... Sie wissen schon ...« Høyer wies mit dem Kopf in die Richtung des toten Mädchens. »Es gibt keinen Grund, warum sie erfahren sollte, wie es geschehen ist.«
Der Mann nickte.
Aber Høyer wusste insgeheim, dass es sich nicht verheimlichen lassen würde. Nicht auf Dauer. Früher oder später würde sie es erfahren. Mit allen Details. Eines Tages würde ihr eine alte Zeitung in die Hände fallen, vielleicht nicht jetzt, sondern erst in ein oder zwei Jahren, vielleicht genau dann, wenn die Wunde gerade anfing zu heilen. Oder eine Zeitung würde die Geschichte in einem anderen Zusammenhang wieder aufgreifen und dabei jede einzelne widerwärtige Einzelheit nennen.
Høyer würde nie lernen, damit zu leben. Er wusste, dass sie die Presse auch brauchten oder sogar ganz besonders brauchten in Fällen wie diesem hier, aber es musste auch anders gehen, bei ein paar Zeitungen ging es tatsächlich auch anders, aber es gab nur wenige anständige. Es war eben die Pornografie des Todes, die sich auszahlte.
Er ging wieder zu dem Holzstapel hinüber. Der Arzt und der Fotograf arbeiteten immer noch. Der Arzt kniete auf einem Bein an der Seite des Mädchens, seine Hosenbeine waren durchnässt und die Schuhe waren als solche kaum mehr zu erkennen.
»Lars Damgård, Notarzt«, sagte er, als Høyer sich ihm vorgestellt hatte. »Ich war gerade in der Nähe, aber ich hätte mir da wohl besser erst mal ein Paar Gummistiefel leihen sollen.«
Høyer nickte. Er fand, dass der Mann noch sehr jung aussah.
»Können Sie zum jetzigen Zeitpunkt schon etwas sagen?«, fragte er.
»Nicht viel«, antwortete Lars Damgård. »Aber alles deutet darauf hin, dass sie vergewaltigt wurde und ... na ja, Sie sehen ja selbst.«
Høyer nickte und trat ein wenig zur Seite, um dem Fotografen Bøjsen Platz zu machen, bevor die Leiche umgedreht wurde.
Høyer warf wieder einen Blick auf das Mädchen. Er vermied sorgfältig, das anzusehen, was einmal ein Gesicht gewesen war. Das Mädchen war fast nackt, es trug nur eine dünne Hemdbluse. Die meisten Knöpfe waren abgerissen und die Bluse bis unter die Arme hochgezogen worden. Wahrscheinlich, als sie über den Waldboden geschleift wurde, dachte Høyer, der die Schleifspuren bemerkt hatte.
Therkelsen trat zu Høyer. »Ich glaube, wir haben etwas gefunden«, sagte er.
Høyer folgte ihm zu einem Strauch etwas weiter weg. Ein paar Zweige waren geknickt und in einer Astgabel verkeilt hing ein Stück Holz, das aussah, als würde es von dem Stapel Holzscheite stammen.
Høyer nickte. »Ja, es hat ganz den Anschein, als hätten wir hier die Mordwaffe. Da sind Haare und Blut dran, wenn ich richtig sehe«, sagte er und zeigte auf das Holz. »Lass Bøjsen ein paar Bilder machen, ehe ihr den Scheit wegnehmt, er ist da drüben sicher gleich fertig. Ist sonst noch etwas gefunden worden?«
Therkelsen schüttelte den Kopf. »Noch nicht, aber es kann natürlich immer noch etwas auftauchen.«
»Was ist mit Fußspuren?«
»Nein, es sieht aus, als wäre er immer auf dem Gras geblieben. Es gibt nichts, was wir gebrauchen können. Hier jedenfalls nicht. Vielleicht draußen auf dem Feldweg.«
Der Arzt schien fertig zu sein. Er hatte sich aus seiner knienden Haltung erhoben und versuchte, seine Hose mit einem Taschentuch abzutrocknen, schüttelte dann aber plötzlich den Kopf und steckte das Taschentuch mit einer Grimasse wieder in die Tasche zurück.
Høyer ging zu ihm. »Sie sollten am besten anschließend noch zu ihrer Familie fahren, falls das kein anderer übernommen hat. Dort werden sie sicher einen Arzt brauchen.«
Der Arzt nickte, während er in seiner Hosentasche nach einer Packung Zigaretten suchte. Mit etwas Mühe fischte er eine heraus und steckte sie sich in den Mund. Høyer bemerkte, dass seine Hände stark zitterten. Er klopfte suchend seine Taschen ab, aber noch ehe er seine Streichhölzer gefunden hatte, streckte Therkelsen, der gerade zu ihnen getreten war, ihm ein brennendes Feuerzeug entgegen.
»Wenn es geht, keine Streichhölzer hier«, sagte Therkelsen.
»Ach so, nein, entschuldigen Sie«, sagte der Arzt. »Ich ... ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen. Zum Glück.«
»Wir wollen uns da drüben hinsetzen«, meinte Høyer und zeigte auf den umgestürzten Baumstamm. »Da sind wir nicht im Weg.«
Sie marschierten im Gänsemarsch zu dem umgestürzten Baumstamm hinüber und setzten sich.
»Tja«, sagte der Arzt, nachdem sie eine Weile schweigend dagesessen hatten. »Das ist weiß Gott eine grausame Geschichte, aber so etwas sind Sie wahrscheinlich gewohnt.«
Høyer schüttelte den Kopf. »Nein, beim besten Willen nicht! Und im Übrigen gewöhnt man sich nie daran.«
»Nein«, pflichtete ihm der andere Mann bei. »Wahrscheinlich nicht.«
»Außerdem kamen wir diesmal wohl mit bestimmten Erwartungen«, sagte Høyer. »Tatsächlich waren wir etwas überrumpelt. Wir hatten geglaubt, sie sei erwürgt worden.«
Der Arzt sah ihn an. »Aber das ist sie doch auch«, sagte er.
»Was?«, platzte Therkelsen ungläubig heraus. »Sie wollen doch wohl nicht sagen, dass sie sowohl erwürgt als auch ... ? Ja, aber das ist doch wahnsinnig.«
»Und doch ist es so gewesen«, erwiderte der Arzt. »Sie hatte einen Strick um den Hals und die hübscheste Würgefurche, die man sich nur denken kann. Aber der Strick hatte sich gelöst. Es war eine Laufschlinge, verstehen Sie?«
Høyer und Therkelsen sahen sich an. Es war genau wie in den vorhergegangenen Fällen. Aber ...
»Ich verstehe das einfach nicht«, meinte Høyer. »Wenn sich der Strick gelöst hat, warum hat er ihn dann nicht einfach wieder zugezogen? Warum das da?« Er nickte in die Richtung der Stelle, an der das Mädchen lag.
»Vielleicht hat es etwas gedauert, bis er es bemerkte«, schlug der Arzt vor.
»Ja, aber als er es dann bemerkte.«
Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Was machen Sie, wenn Sie eine Katze oder einen Hund überfahren und das Tier noch nicht ganz tot ist?«, fragte er.
Høyer und Therkelsen sahen ihn verständnislos an.
»Sie nehmen einen Stein oder einen Wagenheber oder etwas Ähnliches, nicht wahr?«, sagte der Arzt. »Und erschlagen es damit. Sie überfahren es nicht noch einmal.«
»Zum Teufel, das können Sie doch nicht miteinander vergleichen ...«, begann Høyer, verstummte dann aber. Vielleicht konnte man doch, so grotesk es einem auch vorkommen mochte.
»Darf ich die Kippe hier wegwerfen«, fragte der Arzt. Er hatte seine Zigarette bereits aufgeraucht.
»Lieber nicht«, antwortete Therkelsen. »Geben Sie sie mir.«
Er fischte eine alte Tabaksdose aus seiner Tasche und legte die Kippe hinein.
»Was meinen Sie, wie lange ist sie schon tot?«, fragte Høyer. »Nur eine Schätzung.«
»Ungefähr zwölf Stunden«, antwortete der Arzt. »Aber das sage ich unter allen nur erdenklichen Vorbehalten. Sie brauchen mich hier doch nicht mehr, oder?«
»Nein«, sagte Høyer. »Sie können ruhig gehen.«
»Dann fahre ich jetzt zu den Bjergs. Sie bekommen meinen Bericht so schnell wie möglich.«
»Das ist nett«, sagte Høyer.
Sie blieben sitzen und sahen ihm hinterher, als er den Weg hinabging.
»Er sah aus, als könnte er selbst einen Arzt brauchen«, sagte Therkelsen.
»Da kannst du Gift drauf nehmen«, meinte Høyer. »Wenn er vorher nur gehört hat, dass im Wald ein krankes Mädchen liegt?«
Sie standen auf und gingen zu dem Holzstapel zurück.
»Es sieht so aus, als ob er Recht hat«, sagte Høyer. »Die Tat wurde offensichtlich da drüben begangen.« Er zeigte hinüber. »Anschließend nahm er ihre Beine und schleifte sie hinter den Holzstapel. Das passt ja auch zu den früheren Fällen, aber was dann verdammt noch mal passiert ist, weiß der Teufel.«
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