Er lauschte eine Zeit lang schweigend, warf ab und zu eine kurze Frage ein, während er sich auf dem Block vor sich Notizen machte, und legte dann den Hörer wieder auf.
Einen Augenblick lang blieb er vollkommen regungslos am Schreibtisch sitzen.
Dann begegnete er dem Blick seiner Frau.
»Wieder eine?«, sagte sie fragend.
Høyer nickte.
»Ja, wieder eine«, sagte er langsam und seufzte schwer. »Wieder eine.«
Die beiden Meldungen waren ungefähr gleichzeitig eingegangen. Ein besorgtes Elternpaar vermisste seine sechzehnjährige Tochter, die nicht nach Hause gekommen war, nachdem sie am Abend zuvor auf einem Fest bei einer Freundin gewesen war. Als sie um die Mittagszeit noch nicht wieder aufgetaucht war und sich auch nicht in der Bäckerei gezeigt hatte, in der sie ein Praktikum absolvierte, hatten ihre Eltern angefangen, sich ernsthaft Sorgen zu machen und Nachforschungen angestellt. Ihrer Freundin zufolge war sie als eine der Ersten kurz vor zwei aufgebrochen, weil sie am nächsten Morgen früh aufstehen musste, und niemand hatte sie seither gesehen.
Die zweite Meldung kam ein paar Minuten später. Drei kleine Indianer, ein Mädchen und zwei Jungen, hatten eine teilweise entkleidete Frauenleiche in einem kleinen Waldstück gefunden, das nur wenige Kilometer vom Zuhause des vermissten Mädchens entfernt lag.
Høyer fuhr vor Therkelsens Haus rechts ran und hupte kurz. Die Einfahrt war durch Fahrräder, Mopeds und sogar ein Motorrad blockiert. Høyer schüttelte ungläubig den Kopf. Waren sie denn wirklich schon so alt? Er hatte anhand dieser Einfahrt die Entwicklung in der Therkelsen’schen Menagerie von Kinder- und Sportwagen über Dreiräder und Roller bis zu ihren ersten richtigen Fahrrädern und jetzt also Mopeds und Motorrädern verfolgt. Als Nächstes kämen dann wohl Autos, aber bis es so weit war, würde die Einfahrt sicher leer sein, der Garten ein wenig gepflegter aussehen und alles ein wenig langweiliger sein. Aber das begriff man erst, wenn es zu spät war. Die Zeit verging so schnell, ohne dass man im Grunde etwas davon merkte, das war nun einmal so.
Therkelsens lange, hagere Gestalt tauchte im Türrahmen auf. Er bahnte sich einen Weg zwischen den Fahrzeugen hindurch und lief gebückt, um sich vor dem Regen zu schützen, zum Auto.
»Was für ein Scheißwetter!«, knurrte er, als er sich neben Høyer ins Auto setzte.
Høyer nickte. Er hatte keine Lust, noch einmal über das Wetter zu sprechen. Das hatte er hinter sich gebracht – für heute zumindest.
»Und dabei habe ich noch nicht einmal Dienst«, fuhr Therkelsen fort, der angesichts des mangelnden Mitgefühls ein wenig brüskiert war.
Høyer lachte. »Das hast du mir schon einmal gesagt. In aller Deutlichkeit.«
»Aber es hat dich offensichtlich nicht davon abgehalten, mich vom Frieden des heimischen Herds fortzureißen«, bemerkte Therkelsen.
»Na ja, Frieden«, erwiderte Høyer mit einem Blick in den Rückspiegel auf die überfüllte Einfahrt. »Wie bekommst du eigentlich deinen Wagen raus?«
»Zurzeit ist das kein Problem. Er ist in der Werkstatt. Eigentlich müsste ich ihn gegen einen neuen tauschen. Wie zum Teufel konnten wir es uns früher eigentlich leisten, ein Auto zu kaufen? Ich finde, daran braucht man heute gar keinen Gedanken mehr zu verschwenden. Aber wenn ich mit ihm fahre, lasse ich es vor dem Haus stehen, die Garage ist sowieso voller Gerümpel und außerdem klemmt das Garagentor. Es lässt sich weder öffnen noch schließen. Es müsste repariert werden. Irgendwas ist immer. Im Moment sind die Kinder dabei, einen der Kellerräume in eine Videothek zu verwandeln und da hätte ich zu gerne ein Auge drauf gehabt. Ich traue ihnen nicht ganz an einem solchen langen Sonntagnachmittag.«
»Ist deine Frau nicht zu Hause?«, fragte Høyer.
Therkelsen zuckte mit den Schultern. »Sie ist zu Hause, aber nicht anwesend. Sie hat das Kunststück gelernt, die Augen und Ohren vor allem zu verschließen, was die Kinder anstellen. Sie liest oder sieht fern oder was weiß ich und sie könnten vor ihren Füßen das ganze Hause auf den Kopf stellen, ohne dass es zu ihr vordringen würde.«
»Eine großartige Eigenschaft«, meinte Høyer.
»Ja, für sie«, sagte Therkelsen düster. »Sie war übrigens für diesen Videoraum. Sie behauptet, dass es so ruhiger wird. Mag sein. Aber ich finde den Gedanken nun mal beunruhigend, dass sie in Zukunft täglich mehrere Stunden in einem Kellerraum sitzen und Horrorfilme glotzen.«
»Sie sehen sich doch bestimmt auch anderes an«, sagte Høyer.
»Na klar, sicher, sie haben sich schon die ersten beiden Filme ausgeliehen«, schnaubte Therkelsen. »Weißt du, wie sie heißen? Der Abgrund des Todes und Terminator . Gott bewahre! Und die sollen dann später einmal für unsere Rente sorgen, Høyer.«
»Du sagst doch immer, dass sie uns erschießen, wenn wir siebzig werden«, erinnerte ihn Høyer.
»Das werden sie auch tun«, meinte Therkelsen. »Was sollen sie denn sonst mit uns anfangen. Sie können unmöglich alle alten Knacker versorgen, die es dann geben wird.«
»Sie könnten sich vielleicht damit begnügen, uns die Möglichkeiten zu geben, die wir ihnen heute bieten«, sagte Høyer mit einem säuerlichen Lächeln. »Dann sterben wir hungers und sie können ihre Hände in Unschuld waschen.«
»Ja, da ist schon was dran«, erwiderte Therkelsen. »Nun gut, wir können jedenfalls nicht immer weiter um den heißen Brei herumreden, nicht wahr? Was denkst du? Ist wieder der Gleiche am Werk gewesen?«
Eigentlich war das keine Frage. Er wusste sehr wohl, dass Høyer dazu noch nicht das Geringste sagen konnte.
»Das ist durchaus möglich«, antwortete Høyer. »Deshalb war ich auch der Meinung, dass du von Anfang an dabei sein solltest.«
»Wie du das sagst, klingt es fast, als würdest du mir damit einen Gefallen tun«, meinte Therkelsen. »Aber danke sagen möchte ich trotzdem nicht gerade.«
»Ich hoffe nicht, dass es wieder derselbe war«, sagte Høyer. »Drei waren schon zu viel.«
»Tja«, sagte Therkelsen. »Ich weiß nicht recht. Fändest du es denn besser, wenn hier zwei Verrückte frei herumliefen?«
Høyer blieb eine Zeit lang stumm. Sie näherten sich jetzt dem Waldstück. Die asphaltierte Straße endete etwa zehn Meter vor dem Waldrand und wurde von einem aufgeweichten Feldweg abgelöst. Am Straßenrand, noch ein gutes Stück vom Wald entfernt, standen bereits mehrere Autos. Ganz vorne konnte er einen ihrer Streifenwagen erkennen. Eine Polizistin trat mit erhobenem Arm auf die Straße und signalisierte ihnen, dass sie anhalten sollten. Høyer erkannte sie sofort, es war Winther. Eine der jungen weiblichen Polizeibeamten.
»Es muss aber auch nicht unbedingt ein Verrückter gewesen sein«, sagte Høyer, während er den Wagen hinter das letzte Auto setzte und den Motor ausschaltete. »Wir wissen doch noch gar nichts. Es könnte auch ein eifersüchtiger Freund gewesen sein oder irgendein Kerl, dem sie einen Korb gegeben hat. Jemand, den sie schon gekannt hat. Alles ist möglich.«
»Nur Verrückte machen so etwas«, behauptete Therkelsen.
Und als Høyer das Mädchen sah, war er geneigt, ihm Recht zu geben.
Das hier konnte nur ein Verrückter getan haben.
Winther und ihr Kollege aus dem Streifenwagen, die als Erste vor Ort angekommen waren, hatten schon einen Teil der Arbeit erledigt. Das Gebiet war weiträumig abgesperrt worden, niemand hatte auf den Feldweg fahren dürfen und der eigentliche Fundort der Leiche war nochmals abgesperrt und markiert worden. Das Ganze sieht aus wie im Lehrbuch, dachte Høyer, typisch Winther. Er war etwas skeptisch gewesen, als die ersten Frauen bei ihnen anfingen, aber er musste zugeben, dass Winther tüchtig war. Tüchtig und effektiv. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Doch es blieb abzuwarten, ob sie genauso effektiv sein konnte, wenn sie sich einmal nicht an das Lehrbuch halten konnte. Manchmal kam sie ihm wie die brave Streberin der Klasse vor.
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