Er war sich durchaus bewusst, dass er ungerecht war, und sprach das auch nicht laut aus. Er war überzeugt, dass ihm sonst vorgeworfen werden würde, er sei ein alter Chauvinist. Und das wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht, wie er einräumen musste. Es hatte weiß Gott eine ganze Reihe junger männlicher Polizeibeamter gegeben, bei denen er dankbar gewesen wäre, wenn sie einfach nur dem Lehrbuch gefolgt wären. Von Geistesgegenwart wollte er erst gar nicht anfangen.
Sie kam zu ihnen, als sie aus dem Auto gestiegen waren, und zeigte ihnen, wohin sie gehen sollten.
»Was ist das da?«, fragte Høyer und zeigte auf eine Markierung am Straßenrand, ungefähr an der Stelle, wo die asphaltierte Straße endete.
Winther errötete ein wenig, so als hätte sie das Gefühl, etwas übereifrig gehandelt zu haben. »Es gab da ein paar Reifenspuren«, sagte sie. »Als hätte hier ein Auto auf der Straße gewendet und wäre dabei mit den Hinterrädern auf den Acker geraten. Sie können es sich anschauen.« Sie blieb stehen und zeigte. »Sie sahen ziemlich frisch aus, deshalb dachte ich, dass ...«
»Ja, sicher«, sagte Høyer. »Ausgezeichnet.«
Er war drauf und dran, ›mein Mädchen‹ hinzuzufügen, konnte sich aber noch bremsen. Das hätte Polizeibeamtin Winther sicher nicht gefallen.
Er blieb einen Moment stehen und versuchte, sich ein Bild von der Umgebung zu machen. Offensichtlich war der Feldweg eine Sackgasse, die an einem kleinen Bauernhof zwei-, dreihundert Meter vom Wald entfernt endete, und diesseits des Waldstücks lagen nur ein einzelner Hof und ein kleineres Haus. Ein abgelegener Ort, dachte er. Kein Ort, an dem man zufällig vorbeikam. Eine gottverlassene Landstraße, die nirgendwohin führte.
Therkelsen und er folgten dem Feldweg etwa fünfzig Meter weit, bis sie eine Lichtung am Waldrand erreichten, von der ein aufgeweichter Weg, eher ein Paar Reifenspuren, in den Wald führte.
Die Leute vom Erkennungsdienst waren bereits vollauf damit beschäftigt, das Areal zu durchkämmen. Hinter einem Holzstapel konnte Høyer eine kleine Gruppe von Männern erkennen und nur wenig entfernt von ihnen fiel sein Blick auf einige Kleidungsstücke, die auf dem Waldboden verstreut lagen.
Sie gingen zu dem Holzstapel und gesellten sich zu den anderen.
»Großer Gott!«, entfuhr es Høyer unwillkürlich, als er das Mädchen erblickte. Der Anblick traf ihn vollkommen unvorbereitet. Er war ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie erdrosselt worden war wie die anderen, aber das hier ...!
Er holte schnell ein paar Mal Luft, um seiner Übelkeit Herr zu werden. Therkelsen war einige Schritte zurückgetreten und studierte den grauen Himmel, während er sich mit knirschenden Zähnen sammelte.
Høyer entschuldigte sich in Gedanken bei Winther. Ein Anblick wie dieser hätte selbst ältere und abgebrühtere Polizeibeamte aus dem Konzept bringen können. Es steckte offensichtlich mehr Mumm in dem Mädchen, als er gedacht hatte.
Ein seltsamer Laut brachte Høyer dazu, sich umzudrehen und einen forschenden Blick um sich zu werfen.
»Wer ist das?«, fragte er erstaunt Larsen, der gerade zu ihm kam, und nickte in die Richtung von zwei Männern, die etwas weiter weg auf einem umgestürzten Baumstamm hockten. Der eine Mann hielt den Kopf in den Händen verborgen. Es war sein trockenes, stoßweises Weinen, das Høyer gehört hatte, und für einen kurzen, erleichterten Augenblick glaubte er, den Täter vor Augen zu haben.
»Ihr Vater«, sagte Larsen und blickte hinüber.
»Ihr Vater?«, rief Høyer und spürte, wie er wütend wurde. »Welcher Idiot hatte denn die geniale Idee, den ...?«
»Niemand«, beeilte sich Larsen einzuwerfen. »Es war schlicht und ergreifend Pech. Er war gerade auf dem Hof auf der anderen Seite des Waldstücks, als die Kinder nach Hause kamen und erzählten, dass sie draußen im Wald ein Mädchen gefunden hätten, das ›ganz krank‹ sei. Er war unterwegs, um nach seiner Tochter zu suchen, und dann fuhr er mit seinem Nachbarn natürlich hierher.«
»Großer Gott!«, sagte Høyer erneut. Ja, es war in der Tat Pech , dass sich ihr Vater ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt dort aufhielt, dann hierher kam und sie sah. »Aber warum hat man ihn denn nicht längst nach Hause gebracht?«, fragte er.
»Er will nicht«, antwortete Larsen missvergnügt. »Er ... er sagt, dass er sie nicht allein lassen will.«
Allein! Gott im Himmel! Sie war nicht allein. Sie war nie weniger allein gewesen. Es wimmelte von Menschen um sie herum, die ihren toten Körper zeichneten, fotografierten, studierten und untersuchten und nichts davon konnte noch zu ihr vordringen. Aber früher, noch vor einem halben Tag, hatte sie sich sicher wie der einsamste Mensch auf Erden gefühlt. Und doch konnte Høyer den Gedankengang des Vaters gut nachvollziehen.
»Und wer ist der andere?«, fragte Høyer. »Ist das der Nachbar?«
Larsen schaute wieder hinüber. »Ja, das ist der Mann von dem Bauernhof. Direkte Nachbarn sind sie ja nicht. Er versucht, ihn dazu zu überreden, nach Hause zu gehen.«
»Er muss nach Hause«, sagte Høyer. »Wir können ihn doch hier nicht herumsitzen lassen. Und was ist mit seiner Frau, verdammt nochmal? Weiß sie etwa noch gar nicht Bescheid?«
»Doch, der Bauer hat seine Frau rübergeschickt, als er zu Hause war, um anzurufen. Da wollte der Mann auch nicht mitkommen. Aber der Arzt hat ihm in der Zwischenzeit eine Beruhigungsspritze gegeben, so dass er jetzt vielleicht ...« Larsen sah sehr unglücklich aus. »Weißt du, Høyer, das Beschissene ist einfach, dass er es war, der von dem Mädchen verlangt hat, spätestens um zwei zu Hause zu sein, weil sie doch am nächsten Morgen zur Arbeit musste, und jetzt denkt er natürlich, das Ganze wäre seine Schuld.«
Høyer seufzte schwer. Ja, das konnte er sich vorstellen. Selbstvorwürfe und das unausweichliche ›Wenn ich doch nur‹. Vielleicht war er am Morgen zunächst sogar noch Wütend gewesen, als sie nicht nach Hause gekommen war. Dann war seine Wut zu Unruhe, Sorge, Angst geworden, zu einer Angst, die in 99,9 Prozent aller Fälle völlig unbegründet gewesen wäre.
Der Mann hatte aufgehört zu schluchzen, saß nun da und drehte ein Taschentuch in seinen großen Händen.
»Wie hieß er noch?«, fragte Høyer.
»Bjerg«, sagte Larsen. »Poul Bjerg.«
Høyer ging zu dem umgestürzten Baumstamm, neigte sich ein wenig vor und legte eine Hand auf die Schulter des Mannes.
»Sie müssen jetzt nach Hause gehen, Herr Bjerg«, sagte er.
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Sind Sie mit Ihrem Auto hierher gefahren?«, fragte Høyer den Mann, der daneben saß.
Er schüttelte den Kopf. Er war sehr blass. »Nein, mit seinem. Es stand ja draußen. Aber ich kann bestimmt damit fahren.«
»Dann sollten Sie ihn jetzt besser nach Hause fahren«, meinte Høyer.
Der Mann nickte.
»Kommen Sie«, sagte Høyer zu Bjerg und rüttelte sanft an seiner Schulter. »Sie fahren jetzt nach Hause.«
Bjerg stand langsam auf. Er sah Høyer aus blutunterlaufenen Augen an. »Es war meine Schuld«, sagte er leise. »Ich war es, der ihr gesagt hat, sie solle ...«
Høyer klopfte ihm auf die Schulter.
»Darüber lässt sich noch gar nichts sagen«, unterbrach er ihn. »Wir wissen doch gar nicht, was wirklich geschehen ist. Vielleicht wartete er einfach nur darauf, dass die eine oder andere auftauchen würde, und dann hätte er auch noch eine Stunde länger gewartet. Sie war die Einzige, die hier in der Gegend wohnte?«
Der Mann nickte. Seltsamerweise sah er ein wenig getröstet aus, auch wenn Høyer fand, dass es nur ein schwacher Trost war, den er ihm hatte spenden können.
Der Nachbar nahm ihn am Arm und sie setzten sich in Bewegung.
Høyer stoppte sie und zog den anderen Mann ein wenig auf die Seite.
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