Mateo machte eine Pause und nahm einen Schluck Café con leche .
»Heißt das, dass bestimmte Stoffe, die wir zu uns nehmen, dafür verantwortlich sind, dass man sich zum Beispiel an etwas erinnert?«
»Nun ja,« Mateo lächelte nachsichtig. »Das ist eine sehr allgemeine Aussage, die Sie da machen. Man kann sagen, dass zum Beispiel unsere Ernährung entscheidend beeinflusst, ob bestimmte Gene an- oder abgeschaltet werden und wie eng die DNA um spezielle Proteine gewickelt wird. In verschiedenen Versuchen mit Mäusen konnte man nachweisen, dass auch Erfahrungen vererbbar sind. Das heißt, dass die Bereiche der DNA, die für diese Erfahrungen zuständig sind, so markiert werden, dass sie sich aufwickeln, dadurch ablesbar sind und in Zellstrukturen umgesetzt werden. Aber das Ganze ist um vieles komplexer, als ich es dargestellt habe und zum großen Teil noch unerforscht. Deshalb kann ich Ihnen Ihre Frage nicht beantworten. Aber wenn Sie sich bereiterklären, mit mir diesen Versuch zu starten, könnten Sie dazu beitragen, ein wenig mehr Licht in diese Dunkelheit zu bringen.«
Mateo war froh, dass er Sophie nicht näher erklären musste, was genau er erforschte. Immer noch fürchtete er, ein Konkurrent könne vor ihm die bahnbrechende Entdeckung veröffentlichen.
»Was genau werden Sie testen?« Sophie war sich immer noch nicht sicher, ob sie sich auf die Sache einlassen wollte.
»Ich würde bei Ihnen Hautzellen und Blut aus der Fingerspitze entnehmen. Einmal vor und einmal nachdem Sie den Tee getrunken haben, und einmal zusätzlich, während Sie schlafen. Anhand der Veränderungen in den Zellen kann man sehen, welche Bereiche der DNA für Erinnerungen zuständig sind, die vererbt wurden und ob die Substanz, die Sie da eingenommen haben, tatsächlich Bereiche der DNA zum Lesen freigibt.«
Diesmal hatte Mateo mehr gesagt, als er eigentlich wollte. Es ärgerte ihn, aber er brauchte Sophie. Wenn sich das als wahr erwies, was sie gesagt hatte, dann war das für ihn der Durchbruch zum Weltruhm.
Sophie überlegte kurz. »Wenn Sie einverstanden sind, diese Untersuchung hier in Palma zu machen, dann bin ich dabei.«
Mateo glaubte, jeder müsse seinen Herzschlag hören. Er hatte Mühe, die in ihm aufsprudelnde Euphorie zu unterdrücken. »Dann freue ich mich auf unsere Zusammenarbeit.« Er reichte ihr die Hand. »Wenn es Ihnen Recht ist, dann würde ich gerne gleich einen Tag festlegen.«
Sophie sah Ramon fragend an. »Morgen? Da bist du noch hier.«
Ramon nickte und Sophie wandte sich Mateo Ramirez zu. Der sah zufrieden aus. »Ja das ist ideal. Ich wohne im Hotel Can Alomar gleich ...«
»... vorne am Passeig del Borne «, ergänzte Sophie.
»Sie sagen es.«
Sophie biss sich auf die Unterlippe. Sie hörte den unterdrückten Unmut in der Stimme des Wissenschaftlers. Andere zu ergänzen war eine ihrer Unarten, die sie sich partout nicht abgewöhnen konnte, obwohl sie sich bemühte.
»So gegen zehn Uhr morgen früh? Und Sie können selbstverständlich noch jemanden mitbringen, wenn Sie sich sicherer fühlen.« Ramirez hatte seinen sachlichen Unterton wiedergefunden.
*
»Lass uns doch noch einen Sprung ins 49 gehen.«, bat Sophie, als sie das C’an Joan verließen. In ihrer Stimme schwang Nachdenklichkeit. Sie schwieg auf dem Weg dorthin. Ramon kannte diese Stimmung und ließ sie ihren Gedanken nachhängen.
Das 49 hieß eigentlich 49steps , war eine Bar in Form eines Schiffes und lag direkt am Hafen.
»Was stört dich?« Ramon unterbrach ihr gedankenverlorenes Schweigen. Er wusste, Sophie würde sonst noch stundenlang wortlos grübeln.
Sie lehnte sich auf dem Loungesofa zurück und ließ den Blick über die vielen Boote schweifen, die sich hell im tiefblauen Wasser des Hafens spiegelten. Schneeweiße Möwen kreisten kreischend, wartend auf Reste, die sie ergattern konnten und leise plätschernd schlugen kleine Wellen an den Rand der Mole. In der Ferne sah man das Schloss Bellver und die Hügel, über die sich die Ausläufer der Stadt erstreckten.
»Ich hab ein ungutes Gefühl. Keine Ahnung wieso. Der Mann ist irgendwie seltsam.«
»Sophie, der Mann ist ein anerkannter Wissenschaftler.«
»Ich wusste genau, dass du das nicht verstehst.« Sie schüttelte unwirsch den Kopf.
»Das hat doch nichts mit ›verstehen‹ zu tun. Ich akzeptiere, dass du ein ungutes Gefühl hast, aber rein sachlich gesehen ist Mateo Ramirez ein bekannter Wissenschaftler, der in der Genforschung zusammen mit lauter Koryphäen zusammenarbeitet.«
Der Ober brachte die Drinks. Hohe Gläser mit frischem Orangensaft, in denen die Eiswürfel leise klimperten. Sophie nahm einen großen Schluck und versuchte, ihre Gefühle in Worte zu fassen. »Es ist nicht Mateo Ramirez selber, sondern eigentlich die Wissenschaft, die er vertritt. Mir macht die Dimension dieser gesamten DNA Wissenschaft einfach Angst und ich weiß nicht, ob ich daran beteiligt sein will, diese Forschung noch weiter voranzutreiben. Man kann damit so viel Missbrauch treiben. Wer weiß, was die Menschheit mit diesem Wissen anstellt.«
»Sophie, aber dann musst du jeden Fortschritt und alle Forschungen unterbinden. Denn die Menschheit steht seit ihrem Bestehen immer wieder vor dieser Frage. Als die Eisenbahn gebaut wurde, hat man sich auch gefragt, ob der Mensch dieses Tempo aushalten kann oder daran zugrunde geht.«
»Ja schon, aber findest du nicht, dass es einen kleinen Unterschied gibt zwischen Zugfahren und dem Eingriff in die Erbmasse der Menschheit?«
»Natürlich. Das war jetzt ein hinkender Vergleich. Ich wollte damit nur ausdrücken, dass jede Entwicklung auch Bedenken mit sich bringt und dass es immer Menschen gibt, die Gutes mit einer Erfindung anstellen und andere, die es zum Bösen nutzen. Nimm nur mal Pierre und Marie Curie als Beispiel. Die Röntgenstrahlen haben in der Medizin unzählige Menschenleben gerettet und schlimmes Leid verhindert, aber in Hiroshima unendlich viel Schmerz, Trauer, Leid und Tausenden den Tod gebracht. Du wirst niemals beeinflussen können, dass die Menschheit eine Erfindung nur zum Guten gebraucht. Es gibt eben auch die, die gute Dinge zum Bösen nutzen.«
»Das weiß ich ja, aber der Eingriff in eine Erbsubstanz ist etwas, das die Menschheit nicht nur von Grund auf verändern kann, sondern auch Tür und Tor zum Missbrauch öffnet. Du brauchst nicht viel Ausrüstung und Wissen dazu. Du kannst Viren manipulieren, und zwar quasi am Küchentisch. Was denkst du, was das für Auswirkungen haben wird?«
Ramon nahm einen Schluck von seinem Orangensaft und sah in die Ferne, wo das Tramuntanagebirge in der Hitze des Sommertags flimmerte wie eine Fata morgana. Die Welt sah so friedlich aus, aber Sophie hatte recht. Das war sie nicht immer. »Das stimmt«, erwiderte er dann. »Aber was denkst du, was es andererseits für Auswirkungen hat, wenn man Menschen gegen Krebs impfen kann, oder verhindert, dass Babys mit Erbkrankheiten oder Missbildungen geboren werden? Oder wenn man bei Virusinfektionen wie Aids, Hepatitis und vielen anderen eine Möglichkeit findet, Menschen zu heilen. Denn das ist mit dieser Genschere CRISPR/Cas9, mit der die Forscher arbeiten, absolut möglich.«
»Natürlich, das sehe ich auch. Aber wer verhindert, dass es in Zukunft nur noch genmanipulierte Lebensmittel geben wird und veränderte Bakterien und Viren, die tödliche Seuchen bringen? Und wer sorgt dafür, dass nicht nur noch Designerbabys geboren werden, weil die Eltern sich aussuchen können, wie ihr Kind genau aussieht und welche Fähigkeiten es haben wird? Denn das ist es ja doch, was man in Zukunft damit machen wird, oder? Wenn man in China jetzt schon offiziell an Embryonen forscht, dann kannst du sicher sein, dass es inoffiziell woanders auch schon gemacht wird.«
»Das wird definitiv irgendwann möglich sein, aber bis dahin haben die Forscher noch jede Menge Arbeit und wir Juristen auch. Es wird Gesetze geben, die Missbrauch eindämmen, aber wie seit Anbeginn der Menschheit wird es auch Menschen geben, die den Fortschritt, wie heute die Gentechnik, missbrauchen. Das kann man nicht verhindern.«
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