»Ich möchte davon eine Kurzhaar-Perücke mit Mittelscheitel.«
Er hatte auf eines der verblichenen Zeitungsbilder mit einem männlichen Frisurmodel gedeutet, die Mama Neilah als Haarschnitt-Ideen mit Reißzwecken an die Wand gepinnt hatte. »Ziemlich genau so. Und ich zahle gut, wenn ich zufrieden bin.«
Er hatte gut gezahlt. Mehr als gut.
Und er war immer wieder gekommen.
Mama Neilah hatte nie gefragt, woher er die Haare hatte. Es waren immer lange Frauenhaare. Weich, kräftig, glänzend und von schöner Farbe. Und sie hatte auch nie gefragt, wofür er die vielen Perücken brauchte. Inzwischen mussten es an die zwanzig sein. Anfangs hatte er sich immer Männerperücken machen lassen. Sie hatte gedacht, er sei sehr krank gewesen und habe deshalb die Glatze. Aber er machte einen stabilen und gesunden Eindruck all die Jahre, in denen er immer und immer wieder und in immer kürzeren Abständen zu ihr kam. Und irgendwann wollte er dann nur noch Frauenperücken haben.
Es war schon dämmrig, als Mama Neilah ruhig und bedächtig die restlichen Haare auf dem fleckigen Linoleumboden zusammenkehrte. Sie hob kurz den Kopf und sah mit liebevollem Blick zu dem Jungen hinüber, der konzentriert dabei war, die Einnahmen des Tages zusammenzurechnen. Er hatte sich gut rausgemacht, seit sie ihn damals von der Straße geholt hatte.
Eigentlich hatte sie keine Kinder mehr haben wollen. Sie war noch jung gewesen, als sie schwanger wurde. Erst empfand sie es als großes Glück, dass der Kindsvater sie heiratete, denn sie kannten sich erst wenige Wochen. Aber nach den ersten Schlägen von ihm änderte sie ihre Ansicht von Glück.
Nachdem er sie zum dritten Mal geschwängert hatte, war er dann bei Nacht und Nebel verschwunden.
Sie hatte ihn nicht als vermisst gemeldet, denn sie vermisste ihn nicht. Und sie hatte auch nie das Bedürfnis verspürt nachzuforschen, wo er geblieben war.
Es war Knochenarbeit gewesen, drei Kinder alleine großzuziehen, jeden Tag drei hungrige Mäuler zu stopfen, immer in der Angst sie würden eines Tages alle vier auf der Straße landen. Aber sie hatte hart gearbeitet und auch Glück gehabt und sie hatte es geschafft: Ihre drei Kinder hatten jetzt alle einen Beruf und Familien und glücklicherweise nicht viele Gene von ihrem Vater.
Als der Jüngste aus dem Haus gewesen war, hatte sie gedacht, sie würde jetzt ihre neue Freiheit genießen, aber sie hatte festgestellt, dass sie verlernt hatte, etwas damit anzufangen. Als dann eines Tages der kleine, abgemagerte Junge vor ihrem Laden saß und bettelte, nahm sie ihn mit zu sich. Er hatte keine Eltern mehr, war aus dem Heim abgehauen und hatte sich auf der Straße durchgeschlagen. Er war klug. Das erkannte sie sofort. Und sie verstanden sich auf Anhieb. So blieb er bei ihr.
Mama Neilah hatte ihre drei Kinder sehr geliebt, aber es war jeden Tag ein Kampf ums Überleben gewesen. Die Zeit jetzt mit Mo war eine Zeit zum Genießen. Und sie genoss jeden Tag. Sie war sechzig und Mo war elf. Es konnte noch eine Weile so gehen.
»Mo, mach Schluss für heute. Ich denke, wir haben genug gearbeitet.«
Der Junge hob den Kopf, legte den Stift zur Seite und rutschte vom Stuhl. »Okay, Mama Neilah.«
»Was hältst du davon, wenn du schon mal nach Hause gehst und uns was zu Essen herrichtest? Ich räume noch hier auf.«
Mo grinste. »Ich weiß schon, was ich uns koche.« Er drückte ihr einen schnellen Kuss auf die Wange und war schon aus der Türe gerannt. Sie sah ihm lächelnd nach, wie er die Straße hinaufsprang.
Es war dann doch eine Stunde vergangen, bis Mama Neilah endlich die Lichter ausschaltete. Das Knirschen des alten Schlüssels, wenn sie allabendlich die Türe hinter sich zuschloss, war so vertraut für sie, wie das Klappern ihrer Ledersandalen auf dem Pflaster, während sie gedankenverloren unter dem sternenvollen Himmel nach Hause lief.
Zu spät hörte sie die Schritte hinter sich, spürte nur einen scharfen Stich und dann eine Explosion in ihrem Kopf, bevor sie wie ein Brett nach vorne fiel und auf dem Gesicht liegen blieb.
So fand Mo sie. Leblos auf dem Bauch liegend in einer Lache von Blut.
Mama Neilah war tot – und für Mo ging eine Welt unter.
Kairo
Das Hotelzimmer war ganz nach seinem Geschmack. Nachdem Samuel lange in für ihn ärmlichsten Verhältnissen gehaust hatte, genoss er jetzt die luxuriöse Suite im Heliopolis Towers .
Seine letzte Aufgabe in der Millionenstadt Kairo war erledigt und er hatte nicht die Absicht, jemals wieder in diesen Teil der Welt zurückzukehren. Morgen früh um neun ging sein Flug nach Algier, der Hauptstadt von Algerien, und dann würde eine neue Ära in seinem Leben beginnen. Entspannt lehnte er sich in dem weichen Sessel zurück und schwenkte das Cognacglas. Das leise Klimpern der Eiswürfel ließ ihm einen wohligen Schauer über den Rücken laufen und seine Gedanken wanderten zu ihr . Sie war seine Prinzessin, sein Ziel, sein alles . Sie war das, worauf er die letzten Jahre gewartet hatte. Und er würde es genießen mit ihr. Das wusste er sicher.
»Doktor Smith?«
Er war so konzentriert gewesen, dass er das Klopfen an der Türe überhört hatte.
»Zimmerservice«, klang eine helle Stimme etwas abgedämpft aus dem Flur.
Er stand auf und öffnete. Die junge Kellnerin schob einen Servierwagen ins Zimmer. »Ihr Abendessen, Doktor Smith. Ich wünsche guten Appetit.«
In dem Moment, als er das Mädchen sah, wusste er, dass es Ärger geben würde. Er spürte sofort, dass Torian sich bemerkbar machte. Während sein Puls immer höher schlug, griff er scheinbar lässig in seine Hosentasche, drückte dem jungen Ding schon im Abwenden einen Schein in die Hand und wandte sich dem Serviertisch zu.
Das »Vielen Dank« des jungen Mädchens wurde überlagert von Samuels Gedanken, sie möge schnell verschwinden.
Erleichtert atmete er auf, als sich die Zimmertüre schloss.
»So eine Hübsche.« Torians gespieltes Schmeicheln in der Stimme war eine unüberhörbare Provokation. Samuel holte tief Luft. »Torian, du reißt dich jetzt zusammen. Wir dürfen hier nicht auffallen. Du hast dich austoben können und jetzt ist Pause, sonst gefährdest du unsere gemeinsamen Pläne.«
Torian schwieg und Samuel wusste, dass es nichts Gutes bedeutete. Torian hatte in den letzten Jahren mehr und mehr die Kontrolle über ihn gewonnen, obwohl es nach ihrer Flucht so ausgesehen hatte, als wäre Samuel der Stärkere geworden. Natürlich brauchte Torian Samuel immer noch. Samuel war nun mal derjenige, der Menschen besser überzeugen konnte, um nicht zu sagen, manipulieren. Aber während ihrer Zeit in Afrika hatte er Torian weitestgehend die Zügel in die Hand gegeben und das bereute er jetzt.
»Wir sind doch bis morgen früh im Hotel, oder? Unser Flug nach Algier geht erst Viertel vor neun?« Torians Stimme klang herausfordernd.
»Du lässt sie in Ruhe!« Samuel zischte es wütend. »Wir dürfen auf gar keinen Fall Aufmerksamkeit erregen. Denk dran, wir haben extra heute Morgen schon hier im Hotel eingecheckt, damit wir auf keinen Fall mit irgendwas in Verbindung gebracht werden.«
Torian schwieg, aber an seinem Puls spürte Samuel, dass Torian erregt war und irgendetwas plante. Und das bereitete ihm Sorgen. Es war jetzt schon ein paar Mal passiert, dass er von Torians Aktivitäten nichts mitbekommen hatte. Das war neu und machte ihm Angst, weil es zeigte, wie weit Torian die Macht schon übernommen hatte.
Ihre gemeinsamen Pläne durften auf gar keinen Fall scheitern. Zu lange hatte er auf dieses neue Leben hingearbeitet. Er musste Torian wieder in den Griff bekommen.
Dienstag, 31. Juli 2018
Kairo
Auf der Polizeistation ging es zu wie auf einem überfüllten Flughafenterminal.
Eigentlich hätte Kommissar Kamal-ad-din längst Feierabend gehabt, aber es war ihm wichtig, vor Ort zu sein, wenn viel los war. Er war schließlich der Chef und er hatte es ungern, wenn er nicht über sämtliche Geschehnisse informiert war. An Tagen wie heute war es dringend vonnöten, sich ständig einen Überblick über die Ereignisse zu verschaffen.
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