Rajas Volk war groß. Das Dorf beherbergte mehr als hundertfünfzig Menschen und war eines der bedeutenderen auf der Insel, ähnlich wie die Siedlung an den Salzbecken. Aber ihr Dorf hatte dem der Salzbecken gegenüber den Vorteil, an den Steilhängen des Felsens zu liegen. Sie konnten nicht so leicht vom Meer aus angegriffen werden und hatten eine ideale Sicht auf alles, was sich von Land und Meer näherte. Raja war glücklich hier zu leben. Das war der Grund, warum sie jedes unheilvolle Zeichen in höchste Alarmbereitschaft versetzte. Das Leben war sehr zerbrechlich und die Gefahren übergroß. Am Liebsten hätte sie es gehabt, wenn alles immer gleich geblieben wäre und nicht ständig Tod, Krankheit oder der Zorn der Götter das Leben verändern würden. Das Schwierigste im Leben ist doch wohl, Vergänglichkeit zu akzeptieren , dachte sie.
Endlich hatte Raja mit der humpelnden Nunu die Siedlung erreicht. Die Wachen hatten sie schon angekündigt und Toro stand vor seiner Hütte. Er überragte die Bewohner um Haupteslänge und wirkte noch größer durch den weißen Stierschädel mit den schwarzen, bronzeverzierten Hörnern, den er auf dem Haupt trug. Er war nackt, bis auf den ledernen Lendenschurz mit den göttlichen Symbolen, den er um die Hüften trug und sein gebräunter, muskulöser Oberkörper glänzte von Öl.
»Auch du hast die Zeichen bekommen.« Seine tiefe, dunkle Stimme schwang wohltönend, laut und klar über den Platz, als Raja sich näherte. Das runde, mit Steinen spiralförmig belegte Areal direkt vor Toros Hütte war nicht nur das Zentrum für die rituellen Götterverehrungen, sondern auch Mittelpunkt der Siedlung und Ort für Versammlungen und Handel.
Raja berichtete ihm von den Vorkommnissen und eine tiefe Falte erschien auf Toros Stirn. Im gleichen Moment hallte ein gellender Schrei vom Wachturm herunter.
Toro gebot Nunu vor seiner Hütte auf der Bank zu warten und winkte Raja, mit ihm zu kommen. Am Steinbogen im Westen, dem Eingangstor, sahen sie zwei der Steinschleuderer heraneilen. Einer der beiden trug einen Körper in den Armen. Toro lief ihnen entgegen und Raja machte das Zeichen, das Übel abwehren sollte. Doch es war zu spät. Der junge Mann war tot. Sie sah es an Toros Gesicht, als er den Kopf des Jünglings anhob und dann wieder sinken ließ. Rajas Herz zog sich zusammen und eine Träne rollte über ihr Gesicht. War ihr Ritual den Göttern zu wenig gewesen? War sie schuldig am Tod des jungen Mannes?
»Gott Sol, Licht, das am Himmel wandert und uns Leben schenkt, nimm du Pito, den Sohn des Bronzegießers, in dein Schiff und fahre ihn in die andere Welt. Lass seine guten Gedanken schwerer sein, als seine schlechten und nimm ihn mit deinem Lauf sicher auf die andere Seite des Meeres.«
Toros melodiöser Singsang, der wie eine Beschwörung über den Platz schwang, endete damit, dass er eine tote Ziege auf den großen Steintisch hob.
»Wieso ist Pito gestorben?«, flüsterte Nunu.
»Ein al acran hat ihn gestochen«, hauchte Raja zurück. Die Zeremonie sollte in völliger Stille ablaufen und sie wollte die Götter nicht verärgern.
Nunu schüttelte sich. Von einem Skorpion gestochen zu werden war eine schreckliche Vorstellung und ein übles Vorzeichen.
Der Toro begann mit dem Tieropfer, um die Götter zu versöhnen. Alle aus der Siedlung standen nun auf und verneigten sich nach Südosten, während Toro das Blut aus dem Opfertier laufen ließ und in einem Bronzegefäß auffing.
Dabei verfiel er in einen monotonen Singsang, in den alle einstimmten. Das Tier wurde zerteilt und dann im Feuer verbrannt, dessen heller Rauch zum Himmel aufstieg.
»Ein sehr gutes Zeichen«, flüsterte Raja ihrer Freundin glücklich zu. »Die Götter nehmen das Opfer an. Wenn der Rauch schwarz ist oder zu Boden sinkt, dann bedeutet das, dass die Götter immer noch zornig sind und dem Dorf weiteres Unglück droht.«
Toro schien ebenfalls erleichtert zu sein, denn die Sorgenfalten verschwanden aus seinem Gesicht und er dankte den Göttern für ihre Gnade, goss das Blut der Ziege ins Feuer und beschwor Glück für das Dorf herauf.
»Die Ausgewählten der Hütte von Pito tragen ihn jetzt in die Grabhöhlen«, erklärte Raja leise, als vier Männer aufstanden und die zwei Holzstangen packten, zwischen denen auf einem Ledertuch der Körper des toten Jungen lag. »Sie legen ihm Gaben bei, die ihm auf der Fahrt zu den Göttern helfen sollen.«
Toro schritt voraus, ein großes Bronzegefäß mit Kalk tragend, das in den Grabhöhlen über den Toten geleert wurde.
»Der aufsteigende Rauch aus heiligen Kräutern erleichtert dem Toten den Weg mit dem Sonnenschiff ans andere Ufer des Todes«, flüsterte Raja der Freundin weiter zu, die blass und sichtbar mitgenommen neben ihr saß.
Raja war froh, dass Toro sie diesmal nicht in die Zeremonie eingebunden hatte. So konnte sie sich um Nunu kümmern. Sie gab der Freundin einen Schluck Rosmarinwasser, das sie vorsorglich in ihren Wasserschlauch abgefüllt hatte und begleitete sie in ihre Hütte. »Halte dich heute nur hier auf. Du brauchst Erholung. Ich muss jetzt gehen und das Ritual durchführen, das Toro mir aufgetragen hat.«
Er hatte ihr befohlen, ein Reinigungsritual zu vollziehen, während der Junge in die Grabhöhlen begleitet wurde, die am südöstlichen Rand der Steilklippen lagen und auch in diese Himmelsrichtung eingestellt waren. Sie durfte nicht länger bei Nunu verweilen, ohne die Götter zu verärgern.
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