Ich war scheinbar unversehrt und noch dazu absolut überglücklich. Im Zuge dieses Glücksgefühls machte ich mich auf die Suche nach dem toten Hinterwäldler. Er trug eine Hundemarke um den Hals. Maracek, John J., 016626262, 0+, Evangelisch.
Ich kann mich immer noch an jeden einzelnen Buchstaben und an jede Zahl auf dieser Marke erinnern, habe aber keine Ahnung mehr, wie der Nachname meines Zellengenossen lautete. Sein Vorname war zumindest Benny. Wir haben etwa ein Jahr lang zusammengelebt.
Das Einzige, das ich in Mr. Maraceks Nylonbrieftasche finden konnte, war ein unscharfes Bild, das ein Kind auf einer Schaukel zeigte. Das Foto war in der Mitte auseinandergerissen worden, sodass man die Person, die das süße, kleine, blonde Mädchen angestoßen hatte, nicht mehr sehen konnte. Ansonsten trug der arme Johnny nur noch eine G-Shock-Uhr, ein zerbeultes Sturmfeuerzeug, in das irgendein Militärsymbol, das ich nicht kannte, eingraviert war, sowie eine Bisswunde, die der auf meinem Bein ähnelte auf der fleischigen Stelle unter dem Daumen seiner Hand.
Da die Temperatur langsam immer mehr fiel, nahm ich Mr. Maraceks Jacke an mich. Dieses verdammte Wetter hier in Neuengland. Außerdem klaute ich ihm die Uhr und das Feuerzeug, da ich beides bestimmt brauchen würde. Plötzlich fiel mir auf, wie durstig ich war. Mein mageres Mahl und mein Wasservorrat befanden sich in dem kleinen Rucksack, den ich von der Gefängniskarawane erhalten hatte und im Wohnwagen gelassen hatte. Also griff ich in den Schnee und stopfte mir kurzerhand eine Handvoll davon die Kehle hinunter. Er war köstlich und so kalt, dass es an den Zähnen schmerzte. Anschließend legte ich die Uhr an und verstaute das Feuerzeug in meiner Tasche. Als ich einen Blick auf die Uhr warf, konnte ich kaum fassen, was diese mir anzeigte. Denn laut der Datumsanzeige waren bereits drei Tage vergangen, seit ich von der Kolonne getrennt worden war. Ich hatte also volle drei Tage lang geschlafen und falls John J. Maracek die ganze Zeit über hier draußen gewesen war, bedeutete das, dass ich da drin friedlich geschlafen hatte, während er sich hier herumgetrieben und vielleicht sogar ab und zu an der Tür gekratzt hatte. Vermutlich hatte der Airstream ursprünglich ihm gehört.
Um es wie ein Neuengländer zu sagen: Teuflischer Weckruf, Kindchen.
Das Schneegestöber wurde immer dichter, als ich in den Himmel hinaufsah. Sobald die Sonne unterging, würde die Temperatur noch einmal um weitere fünf bis sechs Grad sinken, also suchte ich zuerst mein Umfeld ab, auch wenn ich mir nicht sicher war, wonach genau ich eigentlich suchte, und versteckte mich anschließend in dem Wohnwagen. Ich wollte abwarten, bis sich der Sturm verzog, bevor ich mich durch den Schnee nach Gott weiß wohin schleppen würde.
Es dauerte zwei Tage! Zwei verdammte Tage lang fiel der Schnee. Nicht, dass er besonders heftig gewesen wäre, aber die Schneedecke wurde dabei um gut einen halben Meter höher. Da es im Wohnwagen ein paar Holzscheite gab, von denen draußen noch mehr aufgeschichtet waren, sowie einen altmodischen Topfbauchofen neben dem Bett, war es, besonders dank des Feuerzeugs, kein Problem für mich, mich warmzuhalten. Eine gründliche Durchsuchung des Wohnwagens förderte schließlich noch mehr Fotos von dem blonden Mädchen zutage, woraus ich schlussfolgerte, dass der Airstream-Wohnwagen tatsächlich John Maracek gehört hatte. Es sei denn, er war ein Hausbesetzer gewesen. Nicht, dass das jetzt noch eine Rolle gespielt hätte.
Meine Suche brachte mir außerdem eine äußerst mitgenommen aussehende Machete ein, ein Jagdmesser mitsamt einem Wetzstein, eine doppelschneidige Axt, sowie diverse Kleinigkeiten für mein Sammelsurium an Überlebenszeug.
Als es schließlich aufhörte zu schneien und ich aus dem Fenster sah, entdeckte ich, dass Johns Leiche mitsamt dem gespaltenen Schädel und der verspritzten Hirnmasse komplett vom Schnee bedeckt war, sodass ich ihn nicht länger sehen konnte.
Ich suchte die Gegend auch nach Fußspuren ab, konnte aber keine finden.
Ich hatte nämlich die Befürchtung gehabt, dass der Schuss, den ich vor ein paar Tagen abgefeuert hatte, jemanden anlocken würde, doch scheinbar war niemand hierhergekommen. Ich war etwa anderthalb Kilometer vom nächsten Highway entfernt, der gesamte Wald war von Schnee bedeckt und ich hatte genug Nahrung und Vorräte für einen Monat und noch dazu Waffen.
Ich war in Sicherheit!
Am vierten Tag meines New Hampshire Exils nahm ich die Axt und machte mich daran, Feuerholz zu zerkleinern. Ich hatte zwar noch reichlich, doch die Hälfte von dem, was im Wagen gewesen war, hatte ich bereits verheizt. Als ich den Stapel draußen erreichte, fiel mir allerdings etwas Unheimliches auf. Da waren definitiv frische Fußabdrücke. Da ich bereits eine Weile nicht mehr auf dieser Seite des Wohnwagens gewesen war, konnte ich ausschließen, dass es sich dabei um meine eigenen handelte. Die Abdrücke führten vom Wald aus direkt zu einem Fenster meines neuen Zuhauses und wieder zurück.
Ich packte augenblicklich alles zusammen und machte mich auf und davon.
Da mir die Absichten von demjenigen, der mich ausspioniert hatte, ein Rätsel waren, fand ich es sinnvoller, sofort zu verschwinden. Wahrscheinlich würde ich irgendwo ein verlassenes Bauernhaus oder etwas anderes in der Art finden, das man besser verteidigen konnte, und wo ich das Ende des Winters in Ruhe absitzen konnte. Mit dem Rucksack auf dem Rücken, der Machete und dem Messer an meine Seiten gebunden, der Waffe in meiner Tasche, sowie der Axt auf meiner Schulter, sah ich genauso aus wie Mr. Maracek. Vor allem, da in dem Wohnwagen leider kein Rasierer auffindbar gewesen war und ich mittlerweile auch die Jacke des Toten trug. Ich sah bestimmt wie ein ziemlich krasser Typ aus.
Was für ein Idiot ich gewesen war!
Als ich etwa drei Stunden lang gewandert war, wurde mir bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wohin ich gehen sollte. Da alles mit Schnee bedeckt war, konnte ich nicht einmal die Straße finden. Ich, ein krasser Typ? Wohl eher ein Vollpfosten. Doch anstatt umzudrehen und meinen Fußspuren zurück zum Airstream zu folgen, sagte ich mir, dass ich mich entschieden hatte und deshalb weitergehen würde. Vermutlich hätte ich mich mit mehr Bestimmtheit festlegen sollen, doch eigentlich war ich nur vollkommen verrückt.
Nach sechs weiteren Stunden setzte die Dämmerung ein, doch es wurde nicht einfach nur dunkel, sondern es sah so aus, als würde sich ein weiterer Sturm ankündigen. Na, klasse! Ich kämpfte mich weiter durch den Schnee, bis ich irgendwo Rauch aufsteigen sah. Der Grund für meinen Aufenthalt in diesem Wohnwagen war die Tatsache gewesen, dass ich allein sein wollte. Denn wenn ich allein war, konnte mich niemand meiner Sachen wegen töten oder unbemerkt im Schlaf sterben, um mich dann zu fressen, während ich selbst noch schlief. Demnach stellte der Rauch mich vor ein Dilemma: Sollte ich die gerade aufgezählten Risiken eingehen und mich demjenigen anschließen, der den Rauch verursachte, oder sollte ich sofort in die andere Richtung gehen und dabei vermutlich erfrieren?
Zugegeben, ich brauchte Hilfe, denn mir war kalt und es wurde immer später, deshalb näherte ich mich schließlich dem Rauch. Um dessen Quelle aufzuspüren, brauchte ich etwa fünfzehn Minuten und irgendwann betrat ich eine Lichtung, die sich in beide Richtungen schier endlos ausbreitete. Ich kletterte auf einen Damm und warf vorsichtig einen Blick auf die andere Seite, um zu sehen, wer den Rauch verursachte.
Wenn ich nicht so verfroren und müde gewesen wäre und wenn der Himmel nicht so voller Wolken gehangen hätte, wäre mir vielleicht sofort aufgefallen, dass mit dem Rauch etwas nicht stimmte. Denn es war nicht die Sorte von Rauch, die von Lagerfeuern oder einem Kamin aufstieg, sondern der schmierige, schwarze Rauch brennender Fahrzeuge. Wie das Schicksal so spielte, waren ein Gefängnisbus und ein großer Militärlastwagen zusammengestoßen und dabei hatte es sich dem Anblick nach keinesfalls um einen Unfall gehandelt, denn Einschusslöcher waren auf beiden Fahrzeugen zu erkennen und mehrere Körper lagen auf der Erde verstreut. Einige davon waren in Stücke zerfetzt worden, andere wirkten unbeschädigt.
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