Auf dem Grat, den sie nun erreichen, wetzt der Wind seine eisigen Messer. Aber sie stehen auf einmal über den Nebeln. Unendlich blaut der Himmel über ihnen, und die Sonne verdampft ihren Stirnschweiss, um ihn sogleich aufs neue hervorzuglühen. Der Grat, beiderseitig steil auf die Wolkenkissen stossend, aber unvereist, endet auf einem plattförmigen Gipfel, der wie ein ungeheuerliches, verschliffen glattes Gebiss, altersgelb und bogenförmig sich nach Nordosten erstreckt.
Erst als sie den breiten Felsgrund unter den Füssen haben und die Mäntel überwerfen, drehen sie den Blick nach allen Seiten. Ein unerhörtes, stumm brandendes Wolkenmeer liegt unter ihnen. Nur gegen Süden ragen einige runde Buckel heraus. Auf den höchsten deutend sagt Stoi:
„Der Tollpatsch.“
Dann wirft er sich auf den nackten Boden und blinzt verzückt in die Sonne. Tinser beobachtet ihn misstrauisch, denn er empfindet eine seltsame Rührung.
„Ja, ja, die Sonne!“ sagt er beschämt, lässt sich auch nieder, und sie essen von dem mitgenommenen Röstfleisch.
Aber bald springt der Bayer auf, sichtlich erregt, und auf einmal holt er einen rohen Lederbeutel aus der Tasche, öffnet ihn und hält ihn unter Tinsers Augen.
Der Beutel ist voll von flachen Platinkörnern. Und Tinser wägt ihn in der Hand und murmelt bestürzt, er wäre mindestens das gleiche wie das im Kompaniespint.
Sie gehen weiter, den Gipfelbogen entlang. Fünfhundert Meter tiefer zur Linken liegt die Senke, im ewigen Nebeldach verborgen. Die Hochfläche sattelt sich ein wenig, eine Tundranarbe schiebt sich über das Gestein, ein flacher Krater muldet sich hinab, sumpfig vereist. Der Bayer stürzt hinunter, fällt auf die Knie und wühlt, wühlt mit den Fingern im Eisschlamm.
„Hier! Hier!“ schreit er, wie irr emporspringend.
Zwischen Dreck und Nässe blinken eisengrau die platten Körner.
Und auch Tinser erwacht aus seinem Gleichmut, der Taumel überrennt ihn. Sie brüllen beide in den sengend blauen Himmel, in die unsägliche, schneidend durchwimmerte Einsamkeit, in die im Endlosen verschäumende Wolkenflut, brüllen wie Tiere, trappeln umher, klatschen bis über die Knie in den Moorkessel, der Froststarre ungeachtet, und wühlen, wühlen in unersättlicher Gier, bis sie erschöpft an den Rand torkeln und hinschlagen, plötzlich von einer unfasslichen Qual und Scham durchdämmert, und daliegen unter der Ewigkeit des Himmels, unter dem eisigen Wind, unter der brennenden Sonne und den Namen ihres Vaterlandes in den Stein schluchzen.
Der Aufbruch
Manchmal steigt der wogulische Jäger über den Westpass. Er ist klein, schwarzsträhnig und pfiffig, sein Gesicht ist mondgross und blank gebeizt wie eine alte Truhe; denn er wäscht sich mit jenem Wasser, das Gott ihm verliehen hat. Er ist gern gesehen, weil er meistens Tabak mitbringt, den ihm einige mit purem Platin aufwiegen, während andere ihm durch die Taternweiber etwas abzuschwänzeln suchen. Die meisten jedoch haben sich längst an getrocknetes und zerbröckeltes Birkenlaub gewöhnt, in das sie etwas Steinklee mischen, und das Platin ist ihnen wahrhaft zu schade. Sie begnügen sich mit seinen Nachrichten, die kostenlos sind. Aber er berichtet immer dasselbe. Schon das drittemal ist er da, und immer noch ist ‚das Gras nass von Männerblut‘. Und immer noch ‚pfeift die Nagaika in das Fleisch der Länder‘.
Der Wogule sagt auch, es lebten noch einige der ‚goldenen Haare‘ in den Ruinen der Ansiedlung im Tal. Er meint die Kranken, die damals im Frühling zurückgeblieben sind.
Die Tatarinnen, die ihn zu nichts verlocken können, schlagen die Karten über ihn und hetzen die Männer auf, indem sie verkünden, er würde Unglück bringen. Und dies drittemal nehmen die Männer den Tabak und wollen ihm nichts dafür bezahlen, sie veralbern ihn, und da er nicht gehen will, laufen sie zu Tinsers Zelt, um ihn mit den Waffen zu ängstigen. Dadurch merkt Tinser es, der gerade dabei ist, den Kindern, die ihn wie schmutzige Äffchen umkreischen, ein mützengrosses Pferd zu schnitzen. Und er macht der Sache ein Ende, indem er dem Wogulen gibt, was ihm zukommt.
Stoi war gerade auf der Jagd, so gut es ging, denn er hat sich damals den Fuss verstaucht, als sie von jenem Gipfel herabgeklettert sind. Er ist sehr erbost, als er zurückkommt, und meint, nun würde ihnen der Jäger wohl tatsächlich Unglück bringen und das aus Rache.
Weil Stoi noch immer humpelt, können sie vorerst nicht wieder hinauf. Aber sie können schweigen. Was würde es auch nützen, das Fieber der anderen auf den gefahrvollen Gipfel zu hetzen. Wenn es auch allen dienen sollte, so reden sie sich ein, man muss es doch schlauer anfangen. Sie schweigen auch voreinander, aber in ihren abgestumpften Gehirnen brüten die Pläne, sieden die Unüberwindlichkeiten, ihre Nächte sind mit betörenden Träumen gefüllt, und wenn sie aus dem flackernden Schlaf aufschrecken, sind sie betroffen, nicht das Heulen und Knirschen der Bagger zu vernehmen.
Ein Seil, man kann es hinauftragen, damit beginnt es. Man lässt es hinunter über die steile Wand, fünfhundert Meter und mehr, man zieht damit eine dünne Stahltrosse herauf, mit dieser eine stärkere, mit dieser einen kleinen Krahn, mit diesem wiederum einen grösseren, und dann die Kabel und so fort, bis man die Baracken heraufwindet, die elektrisch heizbar sind; denn die Nächte müssen furchtbar sein da oben. Und dann kommen die tollen Maschinen, die Sauger, die Bagger, die Felsmühlen, die Spülsieber, Angelegenheiten hoch wie Häuser, welche nun zu toben beginnen auf einen kleinen Schalterdruck hin, um die faule Zahnstelle dort oben heilsam auszubohren und die ausgeschlemmten Häufchen der Millionenwerte blank auf die Reinplatte zu schütteln.
In der Senke selbst aber wird das Kraftwerk stehen, angetrieben vom aufgestauten Wildbach.
Es lässt Tinser keine Ruhe mehr. Er zeichnet die Skizze für ein Stauwerk auf ein Blatt in seinem Notizbuch, und auch für eine Holzturbine, die sie probeweise gebrauchen wollen. Aber es ist schwierig genug, Leute von den Schurfen zu locken, um wenigstens das Stauwehr in Angriff zu nehmen.
Da erscheint plötzlich eines Tages ein fremder Mann im Westpass, begleitet von dem Wogulenjäger und von einem der Kranken, die im Frühling in der zerstörten Talsiedlung zurückgeblieben sind. Es ist ein gutgekleideter Mann, ein Kommissar, ein Vertreter der Syrjänischen Republik.
Die Leute besetzen den Eingang des Tales, und da sich keine Soldaten zeigen, rotten sie sich drohend zusammen. Aber der Mann geht furchtlos unter sie und fragt nach ihrem Anführer. Nur Tinser ist da, Stoi ist, wie gewöhnlich, auf der Jagd. Der Genesene erzählt, es läge unten eine ganze Eskadron Ulanen, wie sie die Roten nennen, aber sie wären ganz friedlich, überall wäre jetzt Frieden in Russland, die Ansiedlungen würden wieder aufgebaut, und er wollte nur seinen Anteil hier oben abholen, ehe er sich da unten ein Rittergut kaufte.
Tinser spricht mit dem Syrjänen. Wenn auch alle gelernt haben, mit dem Russischen einigermassen umzugehen, Tinser kann es doch noch besser, und es scheint auch hierin so zu sein, als wäre es nicht bloss gemeine Schiebung, dass einer Offizier wird. Wenngleich es auch darunter Hunde gegeben hat. Tinser selbst jedoch hustet auf alles, was sogenannte Bildung heisst, und schätzt jeden nach seiner Menschlichkeit ein; das merkt jedes Kind, und es ist anzuerkennen, obschon es nicht immer behaglich ist, einfach als Mensch wie jeweder andere behandelt zu werden. Tinser kennt auch diese Überlegungen und weiss, eines Tages wird es allen überdrüssig sein. Sie würden schon wieder liebend gern Herr Leutnant zu ihm sagen, weil sie davon träumen, dass jemand sie mit Herr Bahnwärter, Herr Kanzlist oder Herr Maurermeister angeredet hätte. Nun, da er mit dem Syrjänen spricht, sind sie halbwegs froh, dass er ihnen die Mühe abnimmt, halbwegs aber mäkeln sie schon, dass er es ist, der verhandelt, als stünde er über ihnen, es kribbelt ihnen allerorts, ihm zuzuzwinkern: Vorsichtiger! Sag das nicht! Gib es ihm! Nicht so! Schärfer! Gleichgültiger! Hau ihn an! Linkes Ohr tiefer! Hierher die Hand! Diese Bewegung! — Tinser fühlt das alles wohl, aber er kümmert sich nicht darum und sagt dem Syrjänen, er könnte ihm leider keinen Tee anbieten. Aber der Genesene zieht einen Ziegel Tee hervor, und alle blicken weniger erfreut auf den kostbaren Tee als vielmehr empört auf Tinser!
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