In Sachen Essen und Trinken war JoJo kompletter Selbstversorger. Seine Mutter war nachmittags bei der Arbeit und kam erst spät abends nach Hause, und auch morgens bekam JoJo sie nur selten zu Gesicht, weil sie noch schlief. Sein Vater war sowieso nie da. Er sei zur See, erzählte JoJo herum, aber Motte wusste von seinen Eltern, dass JoJos Vater vor fünf Jahren mit einer anderen Frau nach Hamburg gezogen und seither nicht mehr aufgetaucht war.
Klarer Fall von Erpressung!“, verkündete JoJo jetzt so laut, dass eine vornehme alte Dame, die gerade mit ihrem Einkaufswagen vorbeikam, ihn ganz erschrocken anblickte und dann hastig weitertrippelte.
Etwas leiser fuhr er fort: „Dieser Peter soll sich mal nicht zu früh freuen. Jetzt kriegt er es mit Profis zu tun!“ Er strich sich mit der Hand zärtlich über die gebleichten Spitzen seiner Igelfrisur. Mit seiner Haartracht war JoJo immer „dem Trend voraus“, wie er sagte. Dasselbe galt selbstverständlich auch für seine Klamotten. Da ging der künftige Trend offenbar zu überweiten Jogginghosen, himmelblauen Sneakers und T-Shirts oder Sweatshirts mit irgendwelchen abgefahrenen Sprüchen drauf. Gerade war Ich könnte es dir erklären, aber will dich lieber nicht überfordern dran. JoJo war das geborene Großmaul. Was aber nichts daran änderte, dass er ein richtig guter Kumpel war.
„Ja, JoJo hat recht“, meldete sich Simon mit seiner sanften Stimme zu Wort. Er biss in einen Apfel und kaute erst einmal in aller Seelenruhe, den Blick irgendwo in die Ferne gerichtet.
Seinem braun gebrannten Gesicht war anzusehen, dass er viel draußen war. Es war von langen strohblonden Haaren eingerahmt, die ihm vorne bis in die dunklen Augen fielen. Simon war der Schwarm aller Mädchen in der Klasse, was er neben seinem Aussehen hauptsächlich seinem schüchternen Lächeln Marke Brad Pitt verdankte. Vor allem die schöne Renate – die sie wegen ihrer großzügig bemessenen und ebenso freizügig gezeigten Oberweite untereinander immer Granate nannten –, himmelte ihn richtig an, was er aber gar nicht zu bemerken schien. Ihm waren Mädchen „total egal“, wie er zu Motte einmal gesagt hatte.
Simon warf den Apfelrest mit einem gekonnten Weitwurf in den Papierkorb. „JoJo hat recht, die Sache sieht ganz nach einer Verpressung aus!“
„Erpressung“, korrigierte ihn Motte.
Simons Deutsch war ziemlich aus den Fugen geraten. Sechs Jahre hatte er mit seiner Familie in Texas gelebt, wo sein Vater als Kinderarzt gearbeitet hatte. In den drei Monaten seit ihrer Rückkehr hatte er zwar schon Fortschritte gemacht, steuerte aber in Deutsch trotzdem auf eine Sechs zu – die aber zum Glück für die Versetzung nicht zählte. Die Regelung galt aber nur für das laufende Schuljahr, weshalb Simon seine Freunde gebeten hatte, ihn bei jedem Fehler zu verbessern.
Simon lächelte. „Ja, Erpressung ... Nur, wie kommen wir an die Erbrecher?“
„Verbrecher ...“ Motte musste sich das Lachen verkneifen.
„Als erstes müssen wir diese Mail checken, von der die Rede war“, sagte JoJo. Er hörte sich an wie der Polizeiboss in den Fernsehserien. „Meine Erfahrung sagt mir, dass uns die weiterbringt.“
„Und sagt dir deine Erfahrung auch, wie wir da dran kommen?“, fragte Motte. „Ich mache jede Wette, dass Papas Laptop mit einem Passwort geschützt ist.“
JoJo wischte den Einwand mit einer Handbewegung weg. „Cool bleiben, Mann.“ Er machte eine kleine Kunstpause. „Ich kenne da jemanden, der uns vielleicht helfen kann.“
„Und wer soll das sein?“, fragte Motte misstrauisch.
JoJo ließ ein Räuspern vernehmen, und blickte konzentriert auf seine Schuhspitzen.
„Jetzt rück schon raus!“
JoJo kratzte sich hinter dem Ohr. „MM.“
Motte schaute JoJo prüfend an. Bei ihm wusste man nie. Aber es schien sein voller Ernst zu sein.
MM hieß eigentlich Mariekje Marienhoff, aber da man dabei einen Knoten in die Zunge bekam, nannten sie alle in der Klasse nur „MM“. Manche behaupteten auch, dass MM für „Mathemausi“ stand, seit sie Herrn Freudenthaler einmal vorgerechnet hatte, dass er bei der Umwandlung eines Bruches an der fünften Stelle hinter dem Komma einen Fehler gemacht hatte. MM war die absolute Überfliegerin, nicht nur in Mathe. Motte konnte sich nicht erinnern, dass sie einmal etwas anderes geschrieben hatte als eine Eins. Aber ansonsten wusste eigentlich keiner etwas von ihr. Sie war nach den Sommerferien in die Klasse gekommen, weil sie eine Klasse übersprungen hatte. Keiner hatte bisher ein Wort mit ihr gewechselt. Nicht, dass sie nicht sprechen konnte – wurde sie aufgerufen, kam die Antwort immer wie aus der Pistole geschossen. Aber von sich aus sagte sie nichts. Sie saß einfach nur brav auf ihrem Platz in der ersten Reihe und lauschte den goldenen Worten des Lehrers. In der Pause stand sie alleine herum. Und natürlich spielte sie Geige im Schulorchester.
Motte konnte es noch immer nicht fassen. „Willst du uns verarschen?“
„Nein, Mann. Aber die könnte uns echt weiterhelfen.“
„Wie kommst du denn da drauf?“
JoJo beschäftigte sich wieder mit seinen Schuhspitzen. „Ich hab sie mal angesprochen ...“
„ Angesprochen? “ Simon wirkte richtig aus der Bahn geworfen. „Krass.“
JoJo war es sichtlich unangenehm. Er trat von einem Bein auf das andere, als ob er aufs Klo müsste.
„Ich hatte da mal ein Problem mit meinem Computer ... Und da ihr Vater ja so ein Supercrack ist, dachte ich ...“
Jetzt war der Fall klar. Bei der Vorstellung, ein paar Tage ohne Spiele und Internet zu verbringen, war er durchgedreht und hatte Mathemausi angerufen. Ihr Vater war Professor an der Universität. In der Zeitung hatte es einmal einen Artikel über ihn gegeben. Angeblich war er dabei, den schnellsten Computer der Welt zu bauen.
„Selbst die Leute im Computerladen wussten nicht mehr weiter. Also dachte ich, ich versuch es mal bei MM, vielleicht kann sie ja ihren Vater fragen.“ JoJo hatte ganz rote Ohren bekommen. „Sie meinte nur ganz cool: ,Das krieg ich selber hin. Bring die Kiste mal vorbei.‘ Sie hat dann nur kurz reingeschaut und ein Teil ausgetauscht. Ich sag euch, das ist eine richtige Hackertante.“
„Cool“, sagte Simon, „eine Hacktante können wir gut verbrauchen.“
„Gebrauchen“, verbesserte ihn Motte. „Aber ... die ist doch voll komisch, oder?“
JoJo zuckte nur mit den Achseln. „Ist doch egal, wir brauchen sie jedenfalls. Ich check mal, ob sie mitmacht. Wir sollten uns dann alle heute Nachmittag um drei bei dir treffen, zur strategischen Lagebesprechung.“
„Zur was ?“ fragte Motte.
„Nun ja ... so heißt das eben bei den Profis.“ Mehr Erklärung hielt JoJo offenbar nicht für nötig.
„Ich muss los“, sagte Simon. „Nala wartet mich.“
Simon mit seiner Nala. Seit er das dreibeinige Rehkitz vor ein paar Tagen auf einem seiner Streifzüge durch die Natur aufgegabelt hatte, entwickelte er richtige Muttergefühle. Er hantierte mit Milchflaschen und Wärmedecken und schlug sich die Nächte um die Ohren, um das verunglückte Tierchen durchzubringen.
Motte schaute auf die Uhr. „Ich muss auch los!“ – Es war höchste Zeit. Beim Mittagessen ließ Mama nicht mit sich spaßen. „Willst du nicht mit zum Essen kommen?“, fragte er JoJo im Gehen.
JoJo machte ein Gesicht, als ob er eine Einladung zum Zahnarzt erhalten hätte. Erschrocken stammelte er: „Ach, lass mal ... ich bin auf Diät.“
4. KAPITEL
Die Lagebesprechung
Was immer JoJo befürchtet haben mochte – es kam noch viel schlimmer. Eine echte Sternstunde des Familienlebens, ging es Motte durch den Kopf, als er zu Hause am Mittagstisch saß. Mama hatte eine ihrer berüchtigten Ökospezialitäten aufgefahren: Grünkernauflauf mit Sellerie, dazu Rettich mit Magerquark. Schon seit Jahren kochte sie nur noch vegetarisch. Fleisch machte ihrer Ansicht nach krank und dumm, und Zucker war das pure Gift. Die Regel war einfach: Je besser etwas schmeckte, umso giftiger war es.
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