Motte wollte gerade schon zur Zimmertür starten, um sie demonstrativ zuzuknallen, als er im Türspalt Vaters weiße Mähne vorbeihuschen sah. – Was? Papa jetzt schon zu Hause? Sonst kam er nie vor vier Uhr nachmittags heim. Motte kam die Erinnerung an das Frühstück hoch, bei dem Papa elend schlecht gelaunt gewesen war, noch schlechter als er es in letzter Zeit sowieso schon war. Er hatte eine Szene gemacht, weil sich Motte angeblich zu viel Marmelade aufs Brot geschaufelt hatte. Nein, Motte hatte keine Lust auf eine Fortsetzung und beschloss, erst einmal auf Tauchstation zu bleiben.
Er saß gerade über der zweiten Matheaufgabe, als das Telefon ging. Schon nach dem ersten Klingeln hatte Papa abgenommen. Als ob er auf den Anruf gewartet hätte, ging es Motte durch den Kopf. Sonst ließ er das Telefon immer ewig klingeln – wenn er überhaupt dranging.
„Hallo! Hier Blohm ...“ Das Zittern in Papas Stimme ließ Motte aufhorchen. Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Auf dem Flur hörte er Papa unruhig auf und ab gehen. Ansonsten war lange Zeit gar nichts zu hören.
„Du bist ja wahnsinnig geworden, Peter!“, ging es dann plötzlich los. Es klang wie eine Explosion. „Du bist der Abschaum der Menschheit! Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich verachte!“
Darauf folgte wieder eine lange Stille.
Ganz leise drang es dann zu Motte: „Ja, ich habe die E-Mail erhalten. Aber schneller geht es nun mal nicht. Meinst du, ich kann mal kurz so viel Geld lockermachen, und das alles, ohne dass meine Familie etwas mitkriegt?“
Wieder eine längere Pause.
Dann hörte er wie aus weiter Ferne: „Gut ... Du kriegst die Million ... in vier Wochen.“
Mottes Herz fing an zu pochen. Angestrengt lauschte er in die Stille. Aber auf dem Flur waren nur noch Vaters Schritte zu hören, die sich langsam entfernten. Mit einem lauten Schlag fiel die Haustür ins Schloss.
Motte saß wie vom Donner gerührt auf seinem Teppich. Immer wieder ging ihm dieser eine Satz durch den Kopf: „Ja, du kriegst die Million.“ – Eine Million ? Um was für eine Million ging es da? Wer war dieser Peter? Was hatte er mit Papa zu tun? Und warum sollte der ihm Geld geben? Wie wollte er überhaupt an so viel Geld kommen? Er hatte als Leiter der Stadtbibliothek sicher kein schlechtes Gehalt, und auch Mama verdiente mit ihrem Halbtagsjob im Bioladen noch etwas dazu, aber eine Million? Daran war doch nicht im Traum zu denken! Sie hatten sich gerade erst vor zwei Jahren dieses Ökohaus gebaut und Motte wusste, dass sie immer noch jeden Monat Geld an die Bank zahlen mussten. Jedenfalls war das Papas Lieblingsargument bei den Taschengeldverhandlungen, die Ute regelmäßig anzettelte, wenn sie neue Klamotten und neuerdings auch Schminksachen brauchte. „Wir alle müssen jetzt ein Weilchen den Gürtel enger schnallen“, sagte er dann immer, mit einem munteren Lächeln, mit dem er wohl zeigen wollte, was für einen Spaß Sparen machen kann.
Und jetzt wollte er kurz mal eine Million auftreiben und sie diesem Peter geben? Da war etwas faul. Nein, megafaul.
Jetzt war auch klar, warum Papa die ganze letzte Zeit so komisch gewesen war. Er war ständig schlechter Laune, an allem hatte er etwas auszusetzen. Die gemeinsamen Fernseh- oder Spieleabende gehörten der Vergangenheit an. Jetzt hieß es nach dem Abendbrot immer gleich „Ab ins Bett!“, und zwar in einem Ton, der jede weitere Diskussion überflüssig machte. Motte merkte es Mama an, wie sehr auch sie unter der schlechten Stimmung litt.
Es war, als ob Papa ein anderer Mensch geworden wäre. Eigentlich war er immer ausgesprochen gutmütig und umgänglich gewesen. Er konnte sogar richtig witzig sein, wenn auch manchmal ein bisschen unfreiwillig. Vor allem aber war auf ihn immer Verlass.
Natürlich hatte er auch seine Macken (er nannte sie „Erziehungsprinzipien“). Und leider war sein Geschmack in manchen Dingen ziemlich eigenartig. Beim Fernsehprogramm zum Beispiel: Fußball war so ziemlich das einzige, worauf man sich mit ihm einigen konnte. Ansonsten schaute er sich am liebsten die Kultursendungen auf Arte an. Ein James Bond war in seinen Augen schon ein Gewaltfilm, der verboten gehörte.
Mit Musik war es ähnlich. Alles, was nach den Beatles kam, war für ihn „Krawallmusik“. Papa hörte nur Musik mit Einschlafgarantie: Klassik, Kirchenmusik, allenfalls mal seine alten Hippieschinken.
Er war einfach in den 70er Jahren stehen geblieben, auch in seinem Äußeren. Er trug die Haare fast schulterlang – zumindest die paar, die er noch hatte. Sie waren schneeweiß, schon so lange Motte zurückdenken konnte. „Ein richtiger Späthippie“, sagte Mottes Freund JoJo immer, und das traf den Nagel auf den Kopf. Es hätte bloß noch gefehlt, dass er sich lila Latzhosen und Jesuslatschen angezogen hätte, und man hätte ihn ins Museum stellen können.
Motte stand auf. Unruhig ging er im Zimmer hin und her und blieb vor dem Fenster stehen. Still und traurig nieselte es draußen vor sich hin. Ihn fröstelte. Was sollte er bloß tun? Alles Mama erzählen? – Nein!, schoss es ihm sofort durch den Kopf. Seine Eltern waren immer ein Herz und eine Seele gewesen. Papa musste einen Grund haben, weshalb er die Sache vor Mama geheim hielt.
Sollte er vielleicht mit Ute sprechen? Er verwarf den Gedanken, so schnell er ihm gekommen war. Sie konnte einfach den Mund nicht halten. Am Ende würden alle ihre zwanzig Freundinnen miträtseln.
Während er in den Regen starrte, wurde ihm plötzlich klar, was zu tun war. Wozu hatte man eigentlich Freunde?
Bleib mal locker. Das kriegen wir in den Griff!“ Als wollte er seine Aussage bekräftigen, nahm JoJo sehr zackig seine Brille ab und attackierte die Gläser mit dem Hemdzipfel.
Von Simon kam ein leichtes Nicken. Er war – ganz im Gegensatz zu JoJo – kein Freund der großen Worte. Er sagte, was es zu sagen gab, aber auch kein Wort mehr.
Der ewige Regen hatte eine Pause eingelegt. Motte und seine Freunde hockten auf dem Geländer des Parkplatzes am Supermarkt, wo ihr gemeinsamer Nachhauseweg von der Schule endete. Hier, neben dem Häuschen mit den Einkaufswagen, saßen sie immer noch ein bisschen zusammen, bevor jeder die letzten Meter zu sich nach Hause ging. Es war nicht gerade das gemütlichste Plätzchen, das man sich als Treffpunkt denken konnte. Einkaufswagen ratterten, kleine Kinder quengelten, Autos parkten ein und aus, und vom Getränkemarkt kam das Geschepper der leeren Kisten. Aber dafür beachtete sie hier keiner groß.
Motte hatte seinen Freunden alles erzählt – die Sache mit dem Anruf, Vaters miese Laune, die schlechte Stimmung zu Hause. Er hatte sich alles von der Seele geredet und war nun so erleichtert, dass er den beiden am liebsten um den Hals gefallen wäre.
JoJo und Simon waren seine besten, genauer gesagt: seine einzigen Freunde. Manchmal wunderte er sich selber, wie er mit zwei so unterschiedlichen Typen befreundet sein konnte. Schon auf den ersten Blick war ein größerer Gegensatz kaum vorstellbar: JoJo war deutlich kleiner als Simon, dafür aber auch deutlich dicker. Eigentlich hieß er Jochen. Böse Zungen behaupteten, dass sein Spitzname etwas mit seiner Körperform zu tun hätte: klein und rund – wie das gleichnamige Spielzeug eben. Die Ursachen für seine Korpulenz (wie er selbst seine Leibesfülle zu bezeichnen pflegte) waren alles andere als rätselhaft. Sein Speisezettel bestand ausschließlich aus Fast Food. Alles andere betrachtete er mit Misstrauen („da könnte ja sonst was drin sein“). Wenn er bei Motte zu Besuch war und dessen Mutter ihre unvermeidliche Biokost auftischte, machte er jedes Mal ein Gesicht, als ob man ihn vergiften wollte. Sein Lieblingsgetränk war der berühmte „Matsch“. Dabei handelte es sich um eine süße Eispampe, die man mit Strohhalmen aus Bechern trank. Es gab sie in knallrot, lila, giftgrün und grellgelb. Das Ganze kam aus einer Maschine in JoJos Zimmer, die seine Mutter ihm gekauft hatte. Er hatte das Zeug einmal im Urlaub auf Mallorca getrunken und danach erklärt, ohne Matsch könne er keine Hausaufgaben mehr machen.
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