«Als einer, der seine Liebe gerade gefunden hat, bedauere ich das sehr, Herr Buback.»
Der erinnerte sich nicht, wann ihn jemand so wie dieser junge Mann das letztemal aus der Reserve gelockt hatte, und verfiel in der Eile auf nichts Besseres als danke!
Den Rest der Fahrt verbrachten beide halb schlafend, halb wachend auf den Rücksitzen. Litera mußte jetzt so fahren, wie es ihm die blaugestrichenen Scheinwerfer erlaubten, die nur einen schmalen waagrechten Lichtstreif durchließen. Buback sprach den Tschechen lieber nicht mehr an, ab und zu versank er in phantasmagorischen, inhaltslosen Träumen, um dann wieder eine Zeitlang über die regungslosen Schultern des Fahrers in die schwarze Finsternis zu starren, die auch in den verdunkelten, eher wie Kulissen wirkenden Städtchen nicht wich.
Weit nach Mitternacht hörte er, wie der Fahrer nach hinten meldete, sie hätten Prag erreicht, wen er wo absetzen solle. Ums Haar hätte er auf tschechisch geantwortet und zuckte zusammen; eigenartigerweise erschreckte ihn mehr als der Verlust des heimlichen Vorteils der Gedanke, sich gerade vor seinem Begleiter so zu blamieren. Der ließ ihm wiederum den Vortritt, und so konnte sich Buback eines weiteren, aus Müdigkeit begangenen Fehlers zeihen, als er wider alle Regeln seine Privatadresse angab. Er versuchte es damit zu korrigieren, daß er schon ganz am Fuß der Villenstraße ausstieg, sich knapp verabschiedete und den steilen Hang allein hinaufging.
Klein-Berlin hieß dieses Viertel bei den Tschechen jetzt. Die früher meist jüdischen Villen wurden zu Dienstwohnungen der aus dem Reich herbefohlenen Funktionäre. Buback war sehr spät gekommen, für ihn reichte es nur zu einer Mansarde in einer Jugendstilvilla, die der Vorsitzende des Prager Volksgerichts mit seiner vielköpfigen Familie bewohnte. Die war froh, als er sich den Schlüssel zu dem schmalen Hinteraufgang für das Personal erbat, so mußten sie miteinander keinen Umgang haben. Es kam jedoch ein paarmal vor, daß er zur gleichen Zeit wie der Richter aus dem Hause ging, der ihn dann in seinem Dienstauto mitnahm, das auf dem Weg zum Pankrácer Gericht und Gefängnis sowieso an der Gestapo vorübermußte.
Bei solchen Begegnungen befragte ihn dann der dickliche selbst im strengen Winter schwitzende Mann hastig nach seiner Meinung zur Kriegslage. Buback antwortete grundsätzlich im Geiste der Leitartikel des «Völkischen Beobachters», die Situation auf den Kriegsschauplätzen sei nicht ausschlaggebend, da der Kampf, wie schon so oft in der Vergangenheit, allein durch einen genialen und deshalb unvorhersehbaren Zug des Führers entschieden werde. Der Richter pflichtete ihm begeistert bei, und abends erfuhr Buback dann aus den Rundfunknachrichten von den neuesten Arbeitserfolgen seines Nachbarn, die sich in der Zahl der heute Hingerichteten niederschlugen.
Am Scheitelpunkt der Straße angelangt, vernahm er gedämpfte Geräusche und sah, daß sich vor seinem Haus etwas im Dunkeln bewegte. Er blieb stehen und überlegte zum erstenmal, ob er in dieser Zeit und in dieser Stadt wie überall, wo die Front näher kam, nicht doch wieder seine Pistole tragen sollte. Er erkannte jedoch deutsche Laute und ging deshalb darauf zu. Der große bauchige Schatten verwandelte sich in einen Möbelwagen, in den gerade vier breitschultrige Männer mit Gurten einen Flügel schleppten. Vor dem Essen am Heiligen Abend, zu dem er eingeladen worden war, hatte die Frau des Richters Weihnachtslieder gespielt und sich damit großgetan, es sei der berühmte Steinway, eine Hinterlassenschaft der Vorbesitzer. Sogar die abgedunkelten Taschenlampen der Männer ließen Buback erkennen, daß der geräumige Laderaum schon fast voll war.
Aus der Dunkelheit tauchte ein weiterer Muskelprotz auf und herrschte ihn an.
«Was haben Sie hier zu suchen?»
«Was haben Sie hier zu suchen?» erwiderte er kühl, «ich wohne hier.»
Der Mann, zweifellos eine Charge in Zivil, hielt ihn für einen einfachen Volksgenossen, dem er es jetzt zeigen wollte.
«Den Ausweis!»
«In Ordnung, Herr Hauptwachtmeister!» rief eine keuchende Stimme gedämpft, der Richter höchstselbst eilte herbei, «das ist Oberkriminalrat Buback, unser Nachbar! Guten Abend!»
«... n’ Abend», sagte Buback und betrachtete unverwandt die Szene, wobei ihm ihr Sinn aufging.
«Die Mutter meiner Frau», sprudelte der Richter hervor, «liegt schwerkrank darnieder, ihr Vater wohnt am Bodensee, und so fährt sie hin, sich um die Eltern zu kümmern ...»
Daß dieser Mensch, der allen Grund hatte, um seine Haut zu bangen, seine Familie beizeiten in Sicherheit brachte, kam Buback menschlich begreiflich vor, doch daß er als Haupt der hiesigen Reichsjustiz mit Hilfe von Gefängnispersonal einen hundsgemeinen Raub beging, verschlug ihm den Atem. Schon zum zweitenmal war er heute keines Wortes fähig, schweigend blickte er auf den schweren Flügel, der im Wagen verschwand.
«Die Kinder», schnatterte der Richter weiter, was ihm auf die Zunge kam, «lernen grad spielen, wir möchten nicht, daß sie aus der Übung kommen, bis sie wieder zurück sind ...»
Ratte! dachte Buback wütend. Ratten wie du haben alle Völker Europas gegen uns aufgehetzt, und jetzt verlassen sie als erste mit ihrer Beute das Schiff. Er wandte sich so energisch zum Hintereingang, daß der zerknirschte Aufseher ihm gerade noch aus dem Weg springen konnte. Der Mann, der Hunderte Menschen vor die Gewehrläufe oder unters Beil geschickt hatte, rief ihm fast flehend nach.
«Ich habe die Genehmigung vom Amt des Reichsprotektors, Herr Buback, und ich persönlich bleibe selbstverständlich in meinem Amt ...»
Buback ließ seine Wut an der Tür aus, er schmetterte sie zu, daß das Haus erbebte, doch er wußte, es schlief sowieso keiner darin, denn die Frau Gemahlin saß mit den Kindlein bestimmt schon im Dienstwagen, der sich durch dunkle Nacht gen Westen bewegte.
Die Bilder der Armee, die zu der geschichtlichen Schlacht antrat, und das Bild dieses feigen Kapitulanten regten ihn so sehr auf, daß an Schlaf nicht zu denken war. Er stöberte in der engen Küche eine Flasche mit einem Rest Brandy auf und ließ ihn auf der Stelle durch die Kehle rinnen. Der Druck im Gehirn ließ augenblicklich nach, die Erregung wich einer schlappen Müdigkeit. Dann bemerkte er aber, daß auf dem Parkett ein Briefumschlag lag, den man ihm offenbar unter der Tür durchgeschoben hatte.
Er riß ihn auf und las Kroloffs Bericht.
Morava erschrak, als er Jitka so spät noch wach vorfand.
«Was ist denn passiert?»
«Mir nichts. Ich warte auf dich.»
«Ich hab doch überhaupt nicht gewußt, wann ich wieder da bin! Wir hätten bis morgen dort herumhocken können.»
«Hat euch denn Berans Mitteilung nicht erreicht?»
«Nein, welche denn?»
«Ich habe schon heute nachmittag ein Fernschreiben an die dortige Polizeistation geschickt.»
«Aha», er begriff, «der Ortspolizist war die ganze Zeit mit uns zusammen. Und was wolltet ihr von uns ...?»
«Er hat wieder zugeschlagen. Der Aufschlitzer.»
«Nein! Wann?»
«Gestern. Das heißt schon vorgestern, doch man hat sie erst gestern gefunden.»
«Wen? Wo?»
Als wäre sie im Büro, referierte sie ihm mit ihrer umflorten Stimme knapp die jüngste Schreckenstat. Der Brand, der in der Parterrewohnung des alten Hauses in der Podskalská-Gasse Nr. 131 in Prag XV.-Podolí ausbrach, war spät bemerkt worden, da die umgebaute Küche keine Fenster besaß. Er beschränkte sich zwar auf die betroffene Wohnung, die jedoch völlig ausbrannte. Der teilweise verkohlte Leib wurde der Wohnungsinhaberin Barbora Pospíchalová zugeordnet. Erst gestern mittag machte man in der Gerichtsmedizin eine Entdeckung, die die bisherige Untersuchung auf den Kopf stellte: Die Frau, ihrem Schmuck und Gebiß nach tatsächlich mit der Genannten identisch, war noch vor Ausbruch des Feuers auf die gleiche Weise ermordet und entstellt worden wie die deutsche Baronin. Unglücklicherweise hatten die Feuerwehrleute mit ihren Spritzen alle Spuren vernichtet, und als sie später neben den glimmenden Überresten den sonstigen Schutt auf die Halde schafften, waren auch die abgeschnittenen Brüste spurlos verschwunden. Daß das Verbrechen vom selben Täter begangen worden war, werde durch das fehlende Herz belegt, das der Mörder vermutlich auch diesmal mitgenommen hatte.
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