Dem Deutschen schilderte er begreiflicherweise nur, wie hier noch vor zehn Jahren jedermann in zwei Sprachen plauderte und keiner von der jeweils fremden behauptete, sie sei die schlechtere von beiden. Durch eine weitere harmlose Frage ermutigt, erinnerte er sich, wie man ebenda in den kleinen Weinkellern beim gemeinsamen Verkosten tschechische und deutsche Lieder sang und auch zur «zabijačka» je nach Bekanntschaft eingeladen wurde, nicht nach der Sprache. Was das sei, interessierte sich der Deutsche, und Morava schoß Berans Anweisung bei der gestrigen Verabschiedung auf der Insel durch den Kopf.
Umsichtig, doch plastisch beschrieb er den Brauch, bei dem das grundlegende menschliche Bedürfnis nach Nahrung auf etwas treffe, das bereits die mühsam gezüchtete Frucht von Zivilisation und Kultur sei: dem Fremden vom eigenen Bissen anzubieten und dadurch jener animalischen Begierde vorzubeugen, aus der letzten Endes Kriege entstanden. Das sagte er allerdings nicht mehr, sondern betonte, daß auch in Zeiten wie diesen, da Essen zu etwas Kostbarem und zum Objekt der Spekulation geworden sei, in Südmähren weiterhin der Hunderte von Jahren alte Brauch gelte: Wer früher schon mit einem Gastgeschenk von dannen gegangen ist, hat es auch heute verdient. Was dem, der freigebig schenkt, zum Schicksal werden kann, sagte er und erzählte kühn, wie Beran es ihm geraten hatte, die Geschichte von Jitkas Vater, der ein Schwein geschlachtet hatte, nicht für den Schwarzhandel, sondern um auch Verwandte und Freunde teilhaben zu lassen.
Er bedauerte diesen Einfall, nachdem sich sein Nachbar wieder versteifte, als habe er ein Lineal verschluckt, doch noch ehe er sich strafwürdiger Einfalt zeihen konnte, vernahm er die recht freundliche Versicherung, die Behörden des Reichs, wie er übrigens wissen müßte, respektierten nicht nur das Recht, sondern verstünden auch damit umzugehen. Er, Buback, nehme persönlich nicht an, daß der Vater dieser ... wie heiße sie eigentlich? Jitka Modrá? ja, also von diesem Fräulein Modrá, sie sei gewiß ledig, nicht wahr? so jung wie sie sei? ja, also daß er als Saboteur bestraft werde, wenn sich bestätige, was er hier eben gehört habe. Der Kollege solle nur, wenn sie wieder in Prag seien, dem Fräulein sagen, sie könne ihn, Buback, in dieser Sache ohne weiteres ansprechen, bestimmt werde er sich über den Fall informieren, er benötige nur die Personalangaben.
Morava wollte den Bogen nicht überspannen und behielt das Geständnis, daß es sich hier um seine Braut handle, für sich, ihm schien es vorteilhafter, nicht aus einem so persönlichen Grund als Fürsprecher aufzutreten. Da wuchs aus den Weingärten auch schon der Turm des Schlosses auf, wo der tatverdächtige Jakub Malatínský auf sie warten sollte. Daß er es nicht tat, sollte nicht die letzte Überraschung dieses Tages sein, es genügte aber, ihnen beiden die Stimmung zu verderben, da sich damit die Heimreise auf unbestimmte Zeit verzögerte.
Das Gespräch mit dem jungen Tschechen über Jitka Modrá versetzte Buback in Erregung. Der Apfel einer solchen Schüchternheit mußte von einem ähnlichen Baum gefallen sein, er glaubte gern, daß der Vater des Mädchens einer alten Tradition entsprechend gehandelt hatte und er ihm helfen konnte. Vor einiger Zeit war ihm Goebbels’ vertraulicher Vorschlag für den Führer in die Hände gelangt, das Reich solle so schnell wie möglich seine Politik gegenüber den slawischen Völkern überdenken, deren Gebiete es sich bereits einverleibt hatte. Eine Bevölkerung, der keine Überlebensperspektive vergönnt sei, verbünde sich eher mit Tyrannen, die wenigstens die gleiche Sprache sprechen, hieß es dort so ungefähr.
Buback war völlig damit einverstanden, doch wenig später erkannte er, daß das Memorandum des Führerlieblings diesmal auf taube Ohren gestoßen war. Das Kriegstheater im Osten, erfuhr er von seinen Vorgesetzten, schließe alle Nachgiebigkeit aus, nur brutale Gewalt sei dazu angetan, in den okkupierten Gebieten eine allgemeine Rebellion zu verhindern. Diese Ansichten teilten bei Gestapo und SS alle. Sein Instinkt sagte ihm jetzt aber, daß nicht unbedingt heute gelten mußte, was gestern richtig gewesen sein mochte.
Die Aufgabe, mit der er jetzt betraut wurde, nahm zweifellos eine Variante vorweg, die noch vor kurzem, laut ausgesprochen, den Tatbestand des Hochverrats erfüllt hätte: daß das stolze Reich, das seit Jahren fast den ganzen Kontinent beherrscht hatte, auf dessen Mitte zusammenschrumpfen würde. Die Millionen dort lebender Tschechen, die den Verlust ihrer Selbständigkeit nie verwunden hatten, konnte man weder evakuieren noch schnell liquidieren, höchstens durch geschicktes Wechseln von Zuckerbrot und Peitsche dazu bringen, nicht aufsässig zu werden.
Buback war sich gewiß, daß im gegebenen Fall, wo er Beran und seinen Leuten einen Kollegialitätsbeweis liefern konnte, der im Grunde nichts kostete und große Wirkung zeitigen würde, Meckerle nicht nein sagen konnte. Der Prager Gestapochef hatte schon im Herbst davon gesprochen, daß man die Prioritäten ändern müsse, und bändigte seine Untergebenen jetzt ebenso, wie er ihnen früher die Sporen gegeben hatte. Jawohl, der Vater dieses Mädchens paßte einfach ins Spiel, und Buback, der sich an seine Regeln hielt, bewahrte zusätzlich vor Angst und vielleicht auch vor einem Unglück die Wiederverkörperung seiner Hilde.
Die Feststellung, daß der verdächtige Jakub Malatínský entgegen der Weisung aus Brünn nicht anwesend war und keiner eine Ahnung hatte, wo er sich herumtreiben könnte, durchkreuzte seine Gedanken. Doch noch ehe er sich gezwungen sah, die Anwesenden gehörig abzukanzeln, dolmetschte sein Begleiter bereits, die Vorladung habe nicht zugestellt werden können: Malatínský habe schon vorher zwei Tage freigenommen.
«Worauf warten Sie denn noch?» schnauzte er wenigstens den Ortspolizisten an, der vor Furcht fahlgrün wurde, «schicken Sie jemand nach ihm, lassen Sie ihn suchen, was weiß ich, doch stehen Sie hier nicht wie einer rum, der frisch vom Himmel gefallen ist! Ich will zur Nacht in Prag sein!»
Sich ihm zu widersetzen wagte der junge Mann.
«Kann das, bitte, eine halbe Stunde warten?»
«Warum??» bellte er schon gereizt los.
«Vielleicht kommt er von selbst. Um zwei beginnt seine Schicht.»
Macht er sich vor den Leuten über mich lustig? dachte Buback, doch dann blickte er wieder in Augen, in denen selbst professionelles Mißtrauen keine Falschheit erkannte. Er willigte ein, wies zur Strafe aber das Angebot zum Besuch des angeblich berühmten Schloßkellers barsch zurück. Während sein Begleiter die linierten Seiten fleißig mit Angaben über den Verdächtigen vollkritzelte, hörte er aufmerksam zu und versuchte den Eindruck zu erwecken, daß er aus Unkenntnis der Sprache durchs Fenster eine Schar Krähen beobachtete, die mit gezielten Anflügen einen geeigneten Baumsitz suchten.
Der schweißgebadete Polizist führte Malatínský zwei Minuten nach zwei vom Hof herein. In wattierten Leinensachen und Filzstiefeln trat ein Kerl wie ein Baum ins Zimmer, fast stieß sein Kopf an den Türstock. Buback dachte unwillkürlich an Meckerle, ließ den Vergleich aber rasch fallen. Das hier war kein Sack Fleisch, sondern ein Bündel Sehnen und Muskeln. Er hatte ein ebenmäßiges und festes Gesicht unter einer schwarzen Mähne und kein einziges graues Haar, beim Gehen straffte er Knie und Schenkel fast wie eine Balletteuse, wobei aber eine animalische Manneskraft von ihm ausging.
Dann fing Buback den untergebenen Blick des Kriminaladjunkten auf und winkte ihm loszulegen. Der Tscheche bat die lokalen Würdenträger, den Polizisten ausgenommen, sich zu entfernen, und forderte den Vorgeladenen auf, sich zu setzen. Auch das tat dieser auf eine Weise, die einer besseren Gesellschaft würdig war. Er schlug die Beine übereinander und faltete seine ansehnlichen Hände im Schoß. Obendrein führte er vor, daß er Deutsch sprach, mit starkem Akzent freilich, doch dafür mit einem ordentlichen Wortschatz. Auch er stammte doch aus dieser gemischten Region.
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